Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Fenster. Im Hof herrschte emsiger Betrieb. Wagen und Karren wurden schon seit dem Morgen beladen. In wenigen Tagen würde sie an der Seite der herzoglichen Truppen mit achttausendsiebenhundert Reitern nach Frankreich aufbrechen. Weitere achttausend Mann Fußtruppen befanden sich noch auf der anderen Rheinseite und würden später nachrücken. Es würde kein leichtes Unterfangen sein. Sie würden ganz Frankreich durchqueren müssen, um sich mit den hugenottischen Truppen auf der Westseite zu vereinen. Neben der Schwierigkeit der Versorgung drohte ihnen die Gefahr, auf gegnerische Soldaten zu treffen. Wie der Herzog von Zweibrücken von seinen Kundschaftern wusste, hatte der französische König dem Herzog d’Aumale den Befehl erteilt, sich ihnen mit seinem Heer entgegenzustellen.
Madeleine wandte sich vom Fenster zu dem kleinen Tisch, auf dem Feder und Papier bereitlagen. Alles in ihr weigerte sich, den nächsten Brief an Lebrun zu schreiben. Der Geheimdienstchef hatte ihr über Monsieur Bruno ausrichten lassen, dass er genaue Informationen über die Route haben wollte, die die Truppen von Zweibrücken aus einschlagen würden. Madeleine starrte auf das Papier. Die Verantwortung lastete schwer auf ihr. Würde sie irgend etwas Falsches verraten, konnte es Tausende Menschen das Leben kosten. In den letzten Tagen hatte sie mehrmals kurz davor gestanden, Nicolas die Wahrheit zu gestehen, aber dann hatte sie es wieder nicht gewagt. Niemals würde er ihr verzeihen!
Widerstrebend ließ sie sich an dem kleinen Tisch nieder. Was sollte sie nur schreiben? Sie hatte überlegt, Lebrun gegenüber einfach zu behaupten, man hielte die Strecke aus Sicherheitsgründen streng geheim, aber sie war sich sicher, dass der Geheimdienstchef ihr das kaum glauben würde. Madeleine ergriff die Feder. Sie würde ihm berichten, dass sie bis jetzt nur Kenntnis über die erste Etappe besaß und die Route von Tag zu Tag, abhängig von den Auskünften der Kundschafter, neu festgelegt werden würde. Das klang zumindest halbwegs glaubwürdig. Für einen kurzen Moment hörte man nur den kratzenden Gänsekiel, während ihre Hand mit schnellen Bewegungen über das Papier glitt.
117
I n einer tiefen Schneise kämpfte sich der Zug seinen Weg zwischen den kahlen Feldern entlang. Es war Anfang März, und die winterliche Kälte war endlich milderen Temperaturen gewichen, doch von Frühling war noch immer keine Spur.
Sie hatten sich mit dem Hofregiment von Zweibrücken über Bergzabern zunächst südwärts nach Hochfelden begeben. Dort waren die letzten Soldaten gemustert worden, und die Reiter hatten sich gesammelt.
Madeleine betrachtete die schier endlos wirkende Schlange von Soldaten, Karren und Lasttieren, deren Ende mit bloßem Auge nicht mehr auszumachen war. Fast neuntausend Reiter zogen mit ihnen, und in ihrem Anschluss befand sich ein Gefolge von Hufschmieden, Waffenmeistern, Schuhmachern und Händ lern, den Marketendern und von allem, was zur Versorgung eines solchen Trosses benötigt wurde. Auch Frauen – vorwiegend aus den unteren Schichten – waren bei ihnen; Mägde, Köchinnen und sogar etliche Ehefrauen der berittenen Landsknechte. Madeleine hatte es mit einer gewissen Erleichterung gesehen, denn die Vorstellung, allein mit Tausenden von Männern unterwegs zu sein, wie sie zunächst befürchtete, hatte trotz der Gegenwart von Nicolas etwas Beängstigendes gehabt. Der Umgangston der Söldner war rau, oft derb, und die Gesichter der meisten wirkten verbraucht, nicht selten verhärtet. Das Leben im ständigen Krieg hatte sie gezeichnet, und Madeleine war froh, dass sie nicht eingereiht in die Regimenter, sondern abgesondert im Gefolge des Herzogs ritt. Sie widerstand dem Impuls, ihre Hand schützend auf ihren Umhang zu legen. Noch immer kam es ihr unwirklich vor, dass in ihr neues Leben heranwuchs, aber es gab inzwischen keinen Zweifel mehr, dass ihre Annahme stimmte. Ihre Hände griffen die Zügel fester. Sie musste es Nicolas sagen, dachte sie – auch wenn der Zeitpunkt für derartige Neuigkeiten fraglos denk bar ungünstig war. Mit einem tiefen Atemzug sog sie die milde Luft ein.
Sie befanden sich auf dem Weg Richtung Süden nach Schlettstadt und weiter nach Sennheim. Von dort aus würden sie sich westwärts über die Saône durch die Bourgogne schlagen – wenn sich ihnen nicht vorher der Herzog d’Aumale mit seinen Truppen in den Weg stellte.
Vor ihnen lag eine lange Reise. Ihr Blick glitt zu Nicolas, der etwas vor ihr ritt und
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