Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
besorgt zu dem Herzog schaute. Wolfgang von Zweibrücken ging es schlecht. Mit Schrecken hatte auch Madeleine am Morgen bemerkt, wie schwerfällig der Fürst auf sein Pferd gestiegen war. Nur mithilfe zweier Knechte hatte er es überhaupt in den Sattel geschafft. Das füllige Gesicht des Deutschen war blass. In der Nacht hatte er erneut einen Fieberschub gehabt. Zwei Leibärzte und Doktor Bruno kümmerten sich um ihn, doch Zweibrücken hätte diese Reise in seinem Gesundheitszustand im Grunde nie antreten dürfen, hatte Nicolas ihr erklärt. Er war beunruhigt, denn die Anwesenheit des Herzogs war für dieses Unternehmen unabdingbar – seine Offiziere und Obersten hatten von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass sie diesem Kriegseinsatz nur mit dem Herzog als Oberbefehlshaber nachkommen würden. Wolfgang von Zweibrücken wusste das und hatte deshalb keinen Augenblick gezögert, die Truppen nach Frankreich zu führen. »Mit Gottes Beistand werden wir es schon schaffen!«, hatte er gesagt.
Madeleine schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass er damit recht haben würde.
118
D ie Nacht hatte sich über das Lager gesenkt. Die Lichtpunkte einzelner Laternen und Fackeln, die nach und nach erloschen, zogen sich dem Muster eines Sternenhimmels gleich am Ufer der Sorn entlang. Nicolas, der den Zug noch einmal abgeritten war, um mit den Hauptleuten zu sprechen, trieb sein Pferd auf den Gasthof zu. Das steinerne Haus befand sich etwas weiter im Osten des Lagers. Der Wirt der Herberge hatte bereitwillig und voller Ehrerbietung sämtliche Zimmer für den Herzog und sein Gefolge geräumt. Auch Madeleine und er hatten dort Quartier bezogen.
Nicolas nickte den beiden Wachen zu, die vorn auf der Straße Patrouille liefen. Er ritt bis zu der eingezäunten Weide, die sich neben dem Gasthof befand, da in den Ställen kein Platz mehr war. Ein leises Schnauben verriet ihm, dass sein Rappe hier nicht allein sein würde. Die Umrisse mehrerer Pferde, die neugierig den Kopf hoben, waren auf der Weide zu sehen. Er glitt aus dem Sattel. Ein schläfrig wirkender Stalljunge, der neben dem Gatter gesessen hatte und nun eilig aufsprang, nahm ihm die Zügel ab und wollte ihm eine Laterne für den Weg zum Haus geben, doch Nicolas schüttelte den Kopf. Schwierigkeiten, sich in der Dunkelheit zu orientieren, hatte er noch nie gehabt.
Als er wenig später über den Hof der Herberge zu dem Nebengebäude lief, in dem sich ihre Zimmer befanden, hörte er ein leises Quietschen. Überrascht bemerkte er, dass aus dem Stall ein Mann getreten war. Gewöhnlich hätte Nicolas ihm keine besondere Beachtung geschenkt, doch selbst in der Dunkelheit konnte er erkennen, dass sich der Mann mehrmals umblickte, als befürchtete er, gesehen zu werden.
Nicolas wich unwillkürlich hinter einen aufgestapelten Holzhaufen zurück und beobachtete ihn.
Der Mann lief eiligen Schrittes zum Eingang des Gasthofs. Überrascht erkannte Nicolas, dass es sich um Doktor Bruno handelte. Obwohl er aus dem Stall kam, trug er keine Reitkleidung. Was hatte er dort zu suchen gehabt? Verblüfft blickte er dem Chirurgen hinterher, wie er im Haus verschwand. Dann bemerkte er den schwachen Lichtschein, der aus dem Stall drang. Sein jahrelang geschulter Instinkt ließ ihn misstrauisch werden. Lautlos lief er über den Hof. Die Tür des Stalls war einen Spaltbreit geöffnet, und er zog sie ganz auf.
Ein junger Mann war im Schein eines kleinen Laternenlichts dabei, eines der Pferde aus den Boxen zu führen. »Wohin so spät?«, fragte Nicolas ruhig.
Der Mann fuhr zu ihm herum. Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem sich der Schreck in seinem Gesicht zeigte, doch er reichte, um Nicolas wissen zu lassen, dass hier etwas nicht stimmte.
»Was wollte Doktor Bruno von dir?«, fragte er.
»Nichts«, erwiderte der Mann abwehrend, doch seine Miene veränderte sich schlagartig. Angst und eine eigentümliche Kälte spiegelten sich darin, während er gleichzeitig die Lippen zusammenpresste.
Nicolas’ Blick blieb an der Tasche hängen, die er über der Schulter trug.
»Die Tasche, gib sie mir!«, befahl er und trat einen Schritt auf ihn zu.
Im selben Augenblick blitzte Stahl vor ihm auf. Der Mann, bei dem es sich um einen der Knechte des Chirurgen handelte, musste den Dolch die ganze Zeit in der Hand gehalten haben. Nicolas konnte sich gerade noch überrascht mit einem Satz zur Seite retten und der Waffe ausweichen, während er gleichzeitig seinen Degen aus der Scheide riss. Der Mann
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