Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
heute«, sagte Schwester Philippa mit einem warmen Lächeln. Sie legte ihre Hand auf Madeleines Schulter. »Bete! Der Allmächtige wird dir helfen«, sagte die Nonne unerwartet sanft, und einen Augenblick war Madeleine sich nicht sicher, ob sie damit nur den Schmerz über den Verlust ihrer Mutter meinte.
»Du musst heute Nachmittag noch einen Botengang im Dorf für mich erledigen«, teilte sie ihr dann mit.
Madeleine blickte sie erfreut an. Es kam nicht oft dazu, dass sie das Klostergelände verlassen konnte. Der Zisterzienserorden war sehr auf seine Eigenversorgung bedacht, und die meisten Dinge wurden selbst hergestellt oder angebaut. Schwester Philippas Tätigkeit brachte es jedoch mit sich, dass sie gelegentlich die eine oder andere Kleinigkeit vom Markt oder dem Krämer des nah gelegenen Dorfes benötigte. Da das Gehen für sie zu beschwerlich war, beauftragte sie Madeleine mit diesen Aufgaben. Heute waren es jedoch keine Besorgungen, sondern eine Medizin aus Heilkräutern, die sie der Magd des Gasthofs L’Auberge bringen sollte.
»Das Mädchen war vor einigen Tagen hier. Sie heißt Marthe. Ihre Mutter hat eine Geschwulst, und ich habe eine schmerzstillende Medizin für sie zubereitet. Sie wollte sie gestern abholen, aber anscheinend hat ihr Herr sie nicht gehen lassen. Sag ihr, dass ihre Mutter das Pulver dreimal am Tag in heißem Wasser aufgelöst trinken soll. Das wird die Schmerzen etwas lindern!«
Sie reichte ihr ein kleines Stoffpäckchen.
16
A ls man das Kloster von St. Angela im zwölften Jahrhundert erbaut hatte, war der Ort wegen seiner abgelegenen Lage ausgesucht worden. Umgeben von Wäldern und Feldern, in der Nähe eines kleinen Flusses, hatte man damals etliche Meilen südwestlich von Troyes den Grundstein gelegt. In den Jahrhunderten danach waren durch die Nähe des Klosters und die nicht weit entfernte Straße nach Sens in der Umgebung kleinere und größere Ortschaften entstanden, aber noch immer musste man eine gute Meile laufen, um ins Dorf Paisyzu kommen.
Madeleine liebte den Weg dorthin. Sie genoss die klare Luft und die Weite der Umgebung und spürte, wie sie etwas Abstand zu den Geschehnissen um den Unfall mit Françoise bekam. Der nahende Sommer zeigte sich in seiner ganzen Blüte – Wiesen und Bäume waren von einem saftigen Grün überzogen, und der Weizen bog sich im goldenen Gelb auf den Feldern.
Sie lief die Straße weiter bis zu einer Steinbrücke, über die sie in das Dorf gelangte. Der Gasthof L’Auberge befand sich am anderen Ende des Ortes. Einige Reiter, Passanten und ein zerlumpter Bauer mit einer Ziege kamen ihr entgegen. Sie grüßten Made leine höflich, als sie ihr graues Kleid erkannten, das sie als Zögling des Klosters auswies. Die Zisterzienserinnen von St. Angela erfreuten sich großen Respekts. Die Armen konnten dort nicht nur auf medizinische Hilfe, sondern in Zeiten der Not auch stets auf eine warme Suppe oder ein Stück Brot hoffen.
Schließlich sah Madeleine an der Biegung der Straße die mittelalterliche Fassade des Gasthofs auftauchen. Über dem Eingang aus rohem Stein prangte ein großes Schild aus geschlagenem Kupfer, auf dem eine Abbildung mit einem Krug und Becher und in geschwungenen Buchstaben der Name »L’Auberge« zu lesen war. Sie beschloss, im Wirtshaus nach der Magd zu fragen, und öffnete die Tür. Zögernd blieb sie auf der Schwelle stehen. In dem düsteren Raum mit den hohen Deckenbalken war es leer.
»Wir haben geschlossen!«, ertönte plötzlich eine unwirsche Stimme aus dem hinteren Teil des Raums. Madeleine, deren Augen etwas gebraucht hatten, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen, erkannte, dass an dem Tresen zwei Männer standen. Der eine von ihnen – eine kräftig gewachsene Erscheinung in Kniebundhosen und hochgekrempelten Hemdsärmeln und augen scheinlich der Wirt – war einen Schritt auf sie zugekommen und warf ihr einen unfreundlichen Blick aus seinem rotwangigen Gesicht zu.
»Verzeihen Sie, ich suche die Magd Marthe«, sagte Madeleine, die in der Mitte des Raums stehen blieb, bemüht, sich von seiner abweisenden Art nicht abschrecken zu lassen.
Er verschränkte die Arme. »Was denn, eine Klosterschülerin?«, fragte er mit beißendem Spott. »Will Marthe jetzt auch noch zu den heiligen Schwestern gehen, weil ihre Mutter krank ist?«
»Nein, ich soll ihr nur etwas geben!«, erwiderte Madeleine zurückhaltend. Sie bemerkte, dass sich der andere Mann, der noch immer neben dem Tresen stand, zu ihnen umgedreht hatte. Er
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