Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Viele Monate hatte sie hier in St. Angela verbracht, und Margarète de Foix hatte ihr den Weg aus ihrem Unglück, das wie ein Fluch auf ihr lastete, hin zu Gott gezeigt. Nachdem sie das Kloster verlassen hatte, hatte Elisabeth Kolb ihr manchmal geschrieben, aber sie hatten sich lange nicht gesehen – bis zu ihrem letzten Besuch. Nachdenklich erinnerte sie sich an diese Unterredung. Elisabeth Kolb war von einer schrecklichen Unruhe erfüllt gewesen. Die Äbtissin dachte an das Versprechen, das sie ihr schließlich gegeben hatte, und hoffte, dass Gott ihr nicht versagen würde, es auch zu erfüllen.
15
M adeleine bemühte sich, den getrockneten Thymian so fein wie möglich zu zerstoßen. Ein feiner Schweißfilm perlte auf ihrer Stirn, und ihr Handgelenk schmerzte. Einige Löffel mit dem Mörser zu Pulver zu verarbeiten war nicht weiter anstrengend, einen Eimer voll schon – und das entsprach ungefähr dem Berg von Säckchen, die neben ihr lagen. Staubfein würde sie das Kraut brauchen, hatte ihr Schwester Philippa erklärt. Damit der Thymian sich später möglichst gut mit den anderen Zutaten des Sirups verband und so am besten seine volle Wirkung entfalten konnte. Madeleine war nicht ganz klar, was man mit diesen Mengen an Hustensirup später anfangen sollte – selbst bei einer Erkältungsepidemie im gesamten Kloster würde man sie kaum verbrauchen können –, aber sie hatte nichts gesagt. Im Grunde war sie froh über die Arbeit, denn sie lenkte sie ab. In den letzten Tagen hatte sie schlecht geschlafen und sich die halbe Nacht unter ihrer kratzigen Wolldecke hin und her gewälzt. Noch immer verspürte Madeleine ein erdrückendes Schuldgefühl, wenn sie an Françoise dachte. Sie hat Glück gehabt, meinte Schwester Philippa, wenn der Ziegel sie richtig am Kopf getroffen hätte, hätte sie den Unfall wahrscheinlich nicht überlebt. Aber auch so würde es Wochen dauern, bis ihre zerschmetterte Schulter wieder heilte, und es war fraglich, ob sie auf dem Ohr, das der Stein regelrecht gespalten hatte, jemals wieder richtig würde hören können. Madeleine verstärkte unwillkürlich den Druck auf den Mörser in ihrer Hand. Sie hätte Françoise warnen oder zumindest zur Seite reißen müssen, stattdessen hatte sie dagestanden, nichts getan und nur versucht, die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie hatte an die Worte ihrer Mutter gedacht, dass sie sich alles nur einbildete, und gehofft, es sei wirklich so. Aber das war ein verhängnisvoller Fehler gewesen!
Fast drei Jahre lag das Unglück mit der Brücke zurück, und sie hatte gebetet und gehofft, dass sie eine solche Vorahnung nie wieder heimsuchen würde. Doch es war erneut geschehen, und jetzt verspürte sie eine schreckliche Furcht und Verunsicherung deshalb. Würden die Visionen sie denn immer wieder heimsuchen? Sie musste an die Oberin denken. Sie sah wieder ihren Blick vor sich, wie sie sie angestarrt hatte, nachdem Françoise von dem Dachziegel getroffen worden war. Als würde sie in Madeleine den Leibhaftigen persönlich erkennen. Sie und auch Pater Jacques hatten ihr danach seltsame Fragen gestellt. Erst hatte Madeleine geglaubt, die Oberin hätte von ihrer Vorahnung gewusst oder zumindest etwas in dieser Richtung vermutet, aber dann begriff sie, dass ihre Fragen in eine andere und sehr viel gefährlichere Richtung zielten. Madeleine drückte den Mörser weiter gegen die körnige Struktur der Kräuter. Sie verstand mit einem Mal, was ihre Mutter gemeint hatte, als sie damals davon gesprochen hatte, wie riskant es sei, solche Dinge zu behaupten. Madeleine strich sich mit dem Handgelenk eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie wünschte, sie hätte mit ihr darüber reden können, was geschehen war, ihr erzählen können, dass es keine Einbildung war, sondern diese Dinge wirklich passierten, die sie sah. Sie vermisste ihre Mutter. Ihr wurde bewusst, wie einsam sie war. In den letzten Tagen hatte Louise sie mehrmals gefragt, was mit ihr los sei, doch sie hatte es nicht gewagt, der Freundin die Wahrheit zu sagen.
Ein Geräusch war hinter ihr zu hören.
»Geht es dir gut, mein Kind?«, fragte Schwester Philippa, die humpelnd in den Raum gekommen war und ihren traurigen Blick bemerkt hatte.
»Ja, ich habe nur … an meine Mutter gedacht.« Madeleine schüttete den Thymian aus dem Schälchen in ein größeres Gefäß zu dem bereits zu Pulver zerriebenen Kraut und entnahm einem der neuen Säckchen ein weiteres Bündel Thymian.
»Ich denke, das reicht für
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