Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
trug einen Umhang und war wesentlich besser gekleidet als der Wirt. Der Knauf eines Degens war neben seinem Hosenbund zu erkennen. Obwohl sie im Halbdunkeln nur die Andeutung seines Profils sah, spürte sie den stechenden Blick, mit dem er sie musterte. Sie wurde verlegen – die Situation war ihr plötzlich unangenehm.
»Marthe ist hinten«, erklärte der Wirt barsch. Er deutete mit dem Daumen nach draußen in Richtung der Ställe.
»Danke.« Sie nickte knapp und wandte sich ab, froh, das Gasthaus wieder verlassen zu können.
Madeleine fand die Magd auf dem Hof, wo sie dabei war, die Futtertröge der Schweine aufzufüllen. Sie war neunzehn, zwanzig – höchstens ein oder zwei Jahre älter als sie selbst, schätzte Madeleine, doch ihre knochige Gestalt mit den schwieligen Händen wirkte bereits gezeichnet von der harten Arbeit, die sie täglich verrichtete.
»Schwester Philippa schickt mich«, sagte sie. »Das hier ist für deine Mutter.« Sie reichte ihr das Päckchen mit der Medizin.
Marthe blickte sie ungläubig an. »Danke!«, stieß sie schließlich hervor. Tränen standen in ihren Augen zu. »Sie hat furchtbare Schmerzen. Ich wollte noch mal zum Kloster kommen, aber Monsieur Gerault hat mir nicht freigegeben.«
»Ist schon gut«, erwiderte Madeleine sanft. »Das hat sich Schwester Philippa bereits gedacht. Die Medizin wird für eine Woche reichen, dann werde ich dir neue bringen.«
»He, halt sie nicht vom Arbeiten ab!«, schnauzte jemand hinter ihnen über den Hof. Monsieur Gerault, der Wirt, war in der Hintertür des Gasthofs aufgetaucht und schaute verärgert zu ihnen herüber.
Marthe warf einen ängstlichen Blick in seine Richtung. »Ich muss weitermachen«, sagte sie leise. »Danke nochmals!«
Madeleine nickte. Als sie den Hof verließ, war sie voll des Mitleids für die Magd. Es war bestimmt kein Vergnügen, für Monsieur Gerault arbeiten zu müssen. Im Vergleich dazu ging es ihr im Kloster richtig gut. Wie würde wohl ihre eigene Zukunft in einigen Jahren aussehen? Spätestens mit Anfang zwanzig würde sie sich entscheiden müssen. Sie verstand mit einem Mal, warum einige der Mädchen ernsthaft erwogen, für immer ins Kloster einzutreten. Das Leben, das sie dort erwartete, war vermutlich besser als ein Schicksal als Magd oder als Ehefrau eines Mannes, den sie nicht wollten. Dennoch hätte sie sich niemals vorstellen können, für immer in St. Angela zu bleiben. Madeleine bog um die Ecke zurück auf die Straße. Unwillkürlich blieb sie stehen, als sie sah, dass sich nur einige Schritte entfernt von ihr ein Reiter auf sein Pferd schwang. Noch bevor er sich zu ihr umdrehte, wusste sie, dass es der Mann aus dem Gasthof war.
Einen kurzen Moment lang verharrte er in seiner Bewegung, als er sie entdeckte, und musterte sie erneut mit einem stechenden Blick aus seinen graugrünen Augen. Er war um die dreißig, und obwohl seine markanten Züge nicht unattraktiv waren, ging etwas Kühles und Abschätzendes von ihm aus, das durch die hellen Linien einer Narbe auf seiner rechten Wange noch verstärkt wurde. Seine Augen glitten an ihr herunter, und die Art, wie er sie dabei ansah, machte ihr Angst. Ein seltsames Gefühl ergriff sie. Er schien es zu bemerken und neigte kaum wahrnehmbar den Kopf, bevor er im selben Moment auch schon mit seinem Pferd davonstob.
Schloss Montceaux bei Paris, 1567
17
» G enug jetzt, Messieurs!« Der scharfe, schneidende Klang von Catherine de Medicis Stimme ließ den aufgebrachten Wortwech sel zwischen den beiden Männern abrupt verstummen. Ihr Kanzler, der graubärtige Michel de L’Hospital, und die hochgewachsene Gestalt des Kardinal de Lorraine standen sich hasserfüllt gegenüber. Die Königinmutter schenkte ihnen einen ungehaltenen Blick. Wenn es nicht einmal im Kronrat gelang, für Einigkeit zu sorgen, wie sollte man dann im Land selbst jemals dauerhaft Frieden herstellen? Sie ging einige Schritte durch den Ratssaal des Schlosses Montceaux, dessen Wände kostbare Seidengobelins zierten. Einen Moment lang hörte man nichts außer dem Rascheln ihres schweren Samtkleids. Die Augen der Ratsmitglieder hatten sich abwartend auf sie gerichtet.
Der König, ihr Sohn, war bei der Jagd und hatte ihr, wie so oft, den Vorsitz über den Kronrat überlassen. Seitdem Charles vor vier Jahren für volljährig erklärt worden war, hatte sich in der Regierungsarbeit nicht viel verändert. Noch immer besaß sie die Macht und war die eigentliche Regentin, auch wenn es jetzt die
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