Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Unterschrift ihres Sohnes war, die unter Beschlüssen und Gesetzen stand.
Sie konnte die Anspannung um sich herum im Saal spüren. Im Kronrat spiegelte sich auf erschreckende Weise die politische Situation des gesamten Landes. Nach dem Friedensbeschluss von Amboise hatte Catherine de Medici dafür gesorgt, dass die Pro testanten als Mitglieder im Rat aufgenommen wurden. Neben der erzkatholischen Fraktion um die Guise-Lorraine fanden sich nun auch die Hugenotten unter der Führung des Prinzen de Condé und des Admirals de Coligny hier repräsentiert. Doch statt eines balancierten Ausgleichs, den die Königinmutter im Sinn gehabt hatte, kam es zwischen den Parteien selbst bei unwichtigsten Kleinigkeiten zu aufbrausenden Streitereien. Dabei gab es weiß Gott genug Probleme, dachte sie. Die Übergriffe zwischen den Anhängern beider Konfessionen im Land hatten inzwischen beängstigende Ausmaße angenommen und waren von einer derart abstoßenden und rauschhaften Grausamkeit, dass ihnen dringend Einhalt geboten werden musste. Sorgenvolle Falten zeigten sich auf ihrer Stirn. Die Straßen waren getränkt von dem Blut der Menschen, die – obgleich sie einem Volk angehörten – nicht davor zurückschreckten, sich gegenseitig zu erschlagen und einander bei lebendigem Leibe die Eingeweide herauszureißen. Selbst die Leichen wurden noch in barbarischster Weise zerfleddert und entstellt. Es schien, als würden sich alle düsteren Prophezeiungen der Astrologen erfüllen. Eine unheilvolle Konstellation der Planeten Saturn und Venus hatte schon vor einiger Zeit die kommenden Schrecken angekündigt.
Die Königinmutter war stehen geblieben und wandte sich nun mit bestimmender Miene den beiden Männern zu. »Meine Herren, es geht hier nicht um eine Frage der Schuld, sondern wie diese Gewalttätigkeiten zu verhindern sind. Ganz offensichtlich hat das Versammlungsverbot, das wir im letzten Januar verabschiedet haben, nicht ausgereicht. Es werden weiterhin geheime katholische Vereinigungen gegründet, und bei den kirchlichen Prozessionen kommt es regelmäßig zu den abscheulichsten Zwischenfällen, sodass ich mich frage, ob wir diese vielleicht auch verbieten lassen sollten.« Ihre Worte, die als gut gezielter Seitenhieb auf den Kardinal de Lorraine gedacht waren, verfehlten ihre Wirkung nicht.
Die ebenmäßigen Gesichtszüge des Kirchenmanns nahmen einen fahlen Ton an. Man konnte deutlich sehen, wie an seinem Kiefer zwei Muskelstränge hervortraten. »Es kommt nur deshalb zu diesen Zwischenfällen, weil diese Protestanten die Gläubigen in unsäglicher Weise provozieren«, stieß er gepresst hervor. »Außerdem darf ich Euch vielleicht daran erinnern, Euer Majestät, dass die Hugenotten selbst nicht einmal davor zurückschrecken, unschuldige Mönche und Priester zu ermorden, wie sich in Pamiers gezeigt hat!«
Catherine de Medici schwieg. Nur ungern ließ sie sich an diesen Vorfall erinnern, der wahrlich ein Tiefpunkt der religiösen Auseinandersetzungen darstellte. In Pamiers hatten sich die Anhänger beider Konfessionen zunächst auf offener Straße gegenseitig massakriert, und die Protestanten, die schließlich die Oberhand gewannen, hatten dann die Klöster gestürmt, Mönche und Priester getötet und alle Katholiken aus der Stadt gejagt.
»Ihr wisst, dass gegen die Täter vorgegangen wird«, erwiderte sie zu Lorraine gewandt. »Dennoch muss dieses unnötige Blutvergießen verhindert werden, und gerade Ihr als Kardinal Frankreichs solltet Euren Einfluss dahingehend etwas deutlicher geltend machen!«, fügte sie spitz hinzu.
Der Geistliche lächelte glatt. »Ich gebe mir die äußerste Mühe. Aber die Menschen fürchten nun einmal um ihr Seelenheil, wenn sie die Hugenotten gewähren lassen. Wer könnte ihnen das übelnehmen?«
Unter den Protestanten im Rat war ein empörtes Murmeln zu hören. Catherine de Medici ließ sich von der Bemerkung Lorraines indessen nicht herausfordern. »Gott hat den Menschen einen weltlichen Herrn, einen von seinen Gnaden erwählten Herrscher gegeben, und das ist ihr König, dem sie Gehorsam schulden. Vergesst das nicht, Kardinal!«, sagte sie mit einem kühlen Blick.
Es hätte Gründe genug für sie gegeben, Lorraine für immer zu hassen, und sie hatte all die kleinen und großen Demütigungen, die er ihr früher zugefügt hatte, nicht vergessen. Eines Tages würde er dafür bezahlen. Dafür, dass er ihrem Ehemann geraten hatte, sie zu verstoßen, als sie am Anfang ihrer Ehe nicht schwanger wurde
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