Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
schnell. Sie blickte Louise kopfschüttelnd an und erhob sich mit ihrem Korb. Vor zwei Wochen hatte sich eines der älteren Mädchen, Anne-Sophie, verlobt. Das Kloster hatte nur unweit von Troyes einen Mann für sie gefunden, einen Bauern, der bereit war, sie zur Frau zu nehmen, obwohl sie keine Mitgift mit in die Ehe einbringen konnte. Seitdem sprachen die Mädchen kaum noch über etwas anderes als darüber, wann, wen und ob sie wohl einmal heiraten würden. Madeleine beteiligte sich an diesen Unterhaltungen fast nie. Natürlich bekam sie mit, dass sie sich in den letzten zwei Jahren verändert hatte – sie war schon lange kein kleines Mädchen mehr. Doch die Gespräche über einen zukünftigen Ehemann riefen ihr unwillkürlich ins Gedächtnis, dass sie nicht wie die anderen war. Der Gedanke an die Zukunft machte ihr mehr denn je Angst.
Louise, die bemerkte, dass sie plötzlich ernst geworden war, stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. »War nicht so gemeint! Denkst du denn nie ans Heiraten? Hier im Kloster wirst du doch wohl kaum bleiben, oder?«, fragte sie neugierig, während sie den schweren Korb auf die Hüfte stützte und mit ihr das Flussufer hoch zu den Wäscheleinen lief.
»Heiraten? Ich weiß nicht«, erwiderte Madeleine in dem Versuch, sich aus dem Gespräch zu retten. Welcher Mann würde schon eine Frau wie sie heiraten wollen, die von seltsamen Visionen heimgesucht wurde, dachte sie mit leichter Verbitterung. Wie sehr wünschte sie sich, einfach genauso wie die anderen zu sein.
Louise sah sie erstaunt an. Madeleine war froh, dass sie keine weiteren Fragen mehr stellte, als sie zusammen die Wäsche aufhängten.
Nach der Mittagsmesse und dem anschließenden Essen begab sie sich wie fast jeden Nachmittag zu Schwester Philippa.
Die Nonne hatte seit einigen Tagen zunehmend starke Schmerzen in ihrem Fuß. Madeleine half ihr beim Wechseln ihres Kräu terumschlags. Als sie das Tuch öffnete, erschrak sie – der Fuß, nein das gesamte Bein, sah schlimm aus. Es war angeschwollen, und unten am Knöchel hatte die Haut sich bräunlich verfärbt. Am beunruhigendsten fand Madeleine jedoch die nässende Wunde.
Sie stützte Schwester Philippa, die schmerzhaft das Gesicht verzog, damit sie den Fuß auf einen Schemel hochlegen konnte. »Vielleicht solltet Ihr doch einen Arzt oder Chirurgen kommen lassen, der sich das einmal ansieht«, sagte Madeleine mitfühlend. Sie erinnerte sich mit einem unguten Gefühl daran, dass ihr Monsieur Legrand einmal erzählt hatte, wie gefährlich offene Wunden sein könnten.
Die Nonne schüttelte den Kopf. »Glaubst du vielleicht, ich werde mich in meinem Alter noch unters Messer begeben? Nein, ich werde den Fuß etwas hochlegen, und so Gott will, wird er sich schon bessern!«
Madeleine unterdrückte ein Seufzen. Ihrer sonstigen Gutmütigkeit zum Trotz besaß die alte Nonne etwas Halsstarriges, sobald es um sie selbst ging. Es würde keinen Sinn haben, mit ihr zu streiten. Alles, was Gott ihr zum Leben geben wollte, befand sich Schwester Philippas Meinung nach innerhalb der Mauern des Klosters. Hilfe von außerhalb anzunehmen wäre ihr wie mangelndes Vertrauen in den Allmächtigen vorgekommen und vermutlich einem Gelübdebruch gleichgekommen.
»Dann solltet Ihr Euch wenigstens etwas Ruhe gönnen«, beharrte Madeleine.
Schwester Philippa lächelte nachsichtig. »Du weißt doch, der Herr verurteilt Müßiggang, mein Kind. Und da es nur mein Bein ist, das in Mitleidenschaft gezogen ist, kann mein übriger Körper sich sehr wohl noch etwas nützlich machen«, sagte sie, während sie weiter die Blätter eines unbestimmbaren Krauts mit weißbläu lichen Blüten von den Stielen zupfte. Ihr blasses Gesicht strafte ihre Worte indessen Lügen.
»Kann ich nicht irgendetwas für Euch tun?«, fragte Madeleine, die sich ernsthaft Sorgen um sie machte.
Schwester Philippa nickte. »Das könntest du!« Sie ließ die Arbeit ruhen und tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. »Wenn du es vor der Abendmesse schaffst, solltest du noch einmal zum Wirtshaus, um der Magd neue Medizin zu bringen.« Sie deutete auf den Tisch neben sich, auf dem bereits ein fertiges Päckchen lag. »So wie der Krankheitsverlauf ist, sind die Schmerzen ihrer Mutter sicherlich schlimmer geworden«, fügte sie hinzu.
Madeleine, die eigentlich hatte wissen wollen, ob sie nicht etwas für sie persönlich tun konnte, nickte. Es war bezeichnend für Schwester Philippa, dass sie selbst in dieser Situation
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