Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
die Nonnen und ihre Zöglinge in den Hof gelaufen, wo die Fremden Einlass begehrten. Einer der Männer hatte Madeleine wie einen Sack Mehl geschultert und sie an der Pforte den Schwestern übergeben. Sie sei nach einem Kampf im Wirtshaus ohnmächtig geworden, berichtete er knapp.
Sie hatten Schlimmstes vermutet, dass man sie misshandelt und vergewaltigt hätte, aber Madeleine war glücklicherweise unverletzt gewesen.
»Bleibt bei ihr und sorgt dafür, dass vorerst niemand weiß, dass sie wieder bei Bewusstsein ist«, sagte die Äbtissin leise. Auch wenn sie nicht wusste, was genau in dem Wirtshaus geschehen war, ahnte sie, dass die Ohnmacht Madeleines bester Schutz war.
Sie versuchte sich zu sammeln, um sich für das Gespräch zu wappnen, das ihr bevorstand. Der Anführer der Männer hatte verlangt, sie zu sehen. Sie hatte kurz erwogen, sich zu weigern – als Äbtissin wäre das ihr gutes Recht gewesen –, bis sie hörte, wer sie sprechen wollte. Der Herzog d’Aumale ! Sie war bleich geworden. Aumale war einer der mächtigen Guise-Brüder. Nach dem Tod des Herzogs war sein Bruder, der Kardinal de Lorraine, das Oberhaupt der Familie geworden, doch Claude d’Aumale stand ihm dabei, vor allem in den weltlichen Belangen, zur Seite.
Wie um Gottes willen hatte Madeleine den Weg dieses Mannes kreuzen können? Margarète de Foix begann zu begreifen, dass es sich im Wirtshaus um mehr als eine gewöhnliche Schlägerei gehandelt haben musste.
Sie richtete sich gerade auf, als sie jetzt durch die Tür ins Besucherzimmer trat.
Der Herzog stand in der Mitte des Raums, den Umhang geöffnet und die eine Hand in herrischer Manier auf den verzierten Knauf seines Degens gestützt. Sein akkurat gestutzter Bart, das seidene Wams mit der schweren Kette darüber und die Ringe an seiner Hand – alles an ihm zeugte von der Macht, die er und seine Familie in diesem Land besaßen. Er neigte mit blasierter Miene den Kopf, als er sie bemerkte, gerade so weit, dass er ihrem Amt damit ein Mindestmaß an Respekt erwies, ohne aber einen Zweifel daran zu lassen, welchen sehr viel höheren Rang er selbst einnahm. Seine kantigen Gesichtszüge mit den schrägen Augen strahlten etwas Brutales und Rücksichtsloses aus.
»Herzog!« Sie neigte höflich den Kopf. »Ihr werdet mir die Bemerkung erlauben, dass es ungewöhnlich ist, dass Ihr die Äb tissin eines Nonnenklosters zu sprechen wünscht«, sagte sie dann, die Brauen leicht erhoben.
»In der Tat. Glaubt mir, ich bin selbst überrascht genug, dass mich mein Weg heute hierherführt«, sagte er mit deutlichem Zynismus in der Stimme. Er ließ sich unaufgefordert auf einen der Stühle an dem runden Tisch des karg eingerichteten Raums sinken. »Unter anderen Umständen hätten wir das Mädchen selbstverständlich mitgenommen oder gleich an Ort und Stelle verhört, aber angesichts seiner schweren Ohnmacht schien es uns das Beste, es erst einmal hier versorgen zu lassen …«
Margarète de Foix hatte ihm gegenüber Platz genommen und versuchte, sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen. »Verhört?«, fragte sie. »Welchen Grund gibt es dafür? Das Mädchen sollte der Magd, die im L’Auberge arbeitet, nur eine Medizin bringen. Eine unserer Nonnen hat sie dort hingeschickt«, erklärte sie.
Aumale schlug die Beine in seinen gebauschten Hosen übereinander. Er strich wie beiläufig über die Reithandschuhe, die er in seinen beringten Händen hielt, bevor er den Kopf hob und ihr einen durchdringenden Blick zuwarf. »Nun, leider hat es sich nicht ganz so verhalten«, sagte er mit beängstigender Ruhe in der Stimme. Er legte in einer wohlgesetzten Geste seine Fingerspitzen gegeneinander. »Seht Ihr, heute sollte eine sorgfältig von langer Hand geplante Festnahme mehrerer gefährlicher Hugenottenführer stattfinden. Stellt Euch also meine Überraschung vor, als ich feststellen muss, dass die Männer gewarnt wurden – und zwar von diesem Mädchen … Wie war noch ihr Name? Madeleine, sagte man mir?« Er gab sich keine Mühe, seine unverhohlene Wut länger zu unterdrücken.
Sie nickte blass. »Madeleine Kolb!« Dunkel begann sie das Ausmaß der Schwierigkeiten zu erahnen, in denen ihr Schützling steckte. »Ich dachte, seit dem Vertrag von Amboise würde Frieden zwischen Protestanten und Katholiken herrschen?«, wagte sie höflich einzuwenden.
Seine Augen verengten sich leicht, als wollte er abschätzen, ob sie ihn provozierte. »Es kann und wird nie Frieden mit diesen Ketzern geben! Das solltet
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