Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
sich, ruhig durchzuatmen.
Bis Orléans waren es ungefähr noch vierzig Meilen, hatte Gaspard am Morgen gesagt. Wie lange brauchte man für diese Strecke? Zwei oder drei Tage, wenn man sich beeilte? Sie wusste es nicht und war froh, dass sie sich zumindest daran erinnerte, dass Gaspard erwähnt hatte, dass man den Wald weiter in Richtung Südwesten durchqueren musste, um nach Orléans zu kommen. Sie blickte nach oben. Dem Stand der Sonne nach musste die Richtung stimmen, in die sie ging. Mit zügigen Schritten lief sie weiter und lauschte dabei immer wieder in die Stille des Waldes hinein. Doch sie vernahm kein Geräusch. Erst jetzt spürte Madeleine, dass sie noch immer am ganzen Körper zitterte. Sie musste an Rémi denken. In der Zeit, die sie mit den Gauklern unterwegs war, hatte sie ihn ins Herz geschlossen, und nun hatte sie es nicht einmal geschafft, sich richtig zu verabschieden und ihm alles zu erklären. Wie im Kloster hatte sie von einem Augenblick zum anderen fliehen müssen. Auch Louise hatte sie damals nicht Lebewohl sagen können. Verzweiflung überkam sie. Sollte das von nun an ihr Leben sein – immer auf der Flucht? Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und hob das Kinn. Daran durfte sie jetzt nicht denken. Sie musste weiter. Im selben Augenblick blieb sie entsetzt stehen.
Genau vor ihr, nur einige Schritte entfernt, stand bewegungs los eine Gestalt am Wegesrand. Es war der Reiter, vor dem sie sich versteckt hatte. Sie war ihm geradewegs in die Arme gelaufen!
Madeleine stieß einen tonlosen Schrei aus, drehte sich um und stürzte in die entgegengesetzte Richtung davon. Sie hörte, wie der Mann etwas rief, und wusste, dass ihre Chancen, ihm zu entkommen, mehr als gering waren. Trotzdem rannte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er sich auf sein Pferd geschwungen hatte. »Bleib hier!«
Niemals! , schoss es ihr durch den Kopf. Ohne lange zu überlegen, flüchtete sie abermals ins Dickicht hinein. Doch ihre Hoffnung, er könnte ihr hier schwerer folgen, erwies sich als falsch.
Er brach hinter ihr auf seinem Pferd durch die Äste und kam immer näher, während er dabei laut fluchte.
»Verdammt, warte!«
Aber sie dachte nicht daran, sondern rannte in Todesangst weiter.
»Du sollst warten!«
Ihr Kleid verfing sich in den Kletten eines Strauchs. Der Stoff riss. Sie lief weiter – und dann war er plötzlich mit seinem Pferd neben ihr. Sie versuchte auszuweichen, doch es war zu spät. Eine Hand griff nach ihrem Arm, und dann spürte sie nur noch, wie sich eine schwere Gestalt auf sie stürzte und sie zu Boden riss.
»Nein!« Sie schmeckte Erde und musste husten. Ihr Arm und ihre Schulter schmerzten, und sie spürte das Gewicht des Mannes, der um ein Vielfaches stärker war als sie. Ohne besondere Mühe hielt er sie fest und drehte sie schließlich mit einem Ruck zu sich. Obwohl ihre Vernunft ihr sagte, dass sie nicht gegen ihn ankommen würde, nahm sie ihre gesamte Kraft zusam men und schlug mit einer Hand, die sie freibekam, nach ihm. Eine rote Kratzspur zeigte sich in seinem Gesicht.
»Verdammt, hör endlich auf damit!«, stieß er wutentbrannt hervor. Er griff in einer blitzschnellen Bewegung nach ihren Hand gelenken. Einen Augenblick lang war sie sich sicher, er würde sie schlagen, ja vielleicht sogar töten, und sie wandte den Kopf zur Seite. Dann merkte sie, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte – er hielt sie in eiserner Umklammerung fest.
Madeleine keuchte. Hasserfüllt sah sie ihm ins Gesicht – und erstarrte. Sie kannte den Mann.
»Ihr macht es einem wahrlich nicht einfach, Euch zu helfen, Mademoiselle«, sagte er mit einem grimmigen Ausdruck. Madeleine schaute noch immer ungläubig in sein Gesicht. Der Mann war einer der beiden Hugenotten, die vor dem Wirtshaus gestanden hatten. Sie erinnerte sich, dass er in Begleitung des anderen Protestanten mit der Narbe gewesen war.
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie aufgebracht.
Er hatte sie losgelassen und half ihr mit unerwarteter Höflichkeit, sich aufzurichten. Madeleine rieb sich ihr schmerzendes Handgelenk.
»Für meine Begriffe könntet Ihr etwas mehr Freude über Eure Rettung zeigen, Mademoiselle. Ein Wunder, dass Ihr nicht schon längst den Männern des Herzogs in die Hände gefallen seid«, sagte er kopfschüttelnd. »Mein Name ist übrigens Philippe de Ronsard. Unsere letzte Begegnung erlaubte leider nicht, mich vorzustellen«, fügte er hinzu, als er plötzlich aufhorchte.
Madeleine wandte fast
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