Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
lenkte er das Pferd bald nach rechts, bald nach links und dann wieder durch das dichte Gestrüpp vor ihnen hindurch, als würde er den Weg blind kennen.
Madeleine hätte nicht sagen können, wie lange sie so geritten waren, als sich der Wald mit einem Mal zu lichten begann. Vor ihnen öffnete sich eine weite Ebene aus Wiesen, Feldern und Baumgruppen, durch deren Mitte sich das blaugrüne Band eines Flusses zog. Sie hatten die Loire erreicht.
Madeleine hielt unwillkürlich den Atem an.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, hörte sie hinter sich die Stimme von Ronsard, der zu ahnen schien, was in ihr vorging.
»Ja, sehr«, erwiderte Madeleine. Sie erinnerte sich, dass man das Tal der Loire auch den Garten Frankreichs nannte. Als sie auf das glitzernde Wasser des ungezähmten Flusslaufs blickte, in dem sich Sandbänke und kleine Inseln erhoben, verstand sie, warum. Die Landschaft hatte in ihrer Schönheit etwas ungeheuer Kraftvolles und Ursprüngliches.
Während sie weiterritten, erzählte ihr Ronsard, dass die Loire zur Zeit des Hundertjährigen Kriegs zeitweise als natürliche Verteidigungslinie und Grenze zu den von England besetzten Gebie ten im Norden gedient hatte. »Damals sind zahlreiche Burgen und Festungen entstanden«, erklärte er. »Auf deren Grundmauern haben der König und viele Feudalherren später ihre Schlösser und Paläste gebaut. Sie verbringen hier noch immer viel Zeit. Aber Orléans und seine Umgebung ist fest in der Hand der Hugenotten. Hier sind wir deshalb erst einmal sicher.«
Er deutete mit der ausgestreckten Hand über die Loire hinweg zur anderen Uferseite. »Dort drüben zwischen den Wäldern liegt La Bonnée!«
Madeleine folgte seinem Blick über den Fluss und die Baumwipfel hinweg, doch sie konnte nicht einmal ein Dach erkennen und fragte sich, wie sie diesen Ort jemals allein hätte finden sollen.
»Was ist La Bonnée eigentlich genau? Ein Hof?«
»Nein, eher eine Art Landhaus«, meinte er knapp.
Sie spürte, dass er nicht mehr darüber sagen wollte.
Madeleine wandte sich plötzlich zögernd zu ihm. »Wird man dort Schwierigkeiten damit haben, dass ich Katholikin bin?«
»Bist du das denn?« Ein Hauch von Provokation lag in seiner Frage, die er anscheinend tatsächlich ernst meinte. Sie merkte, wie sie sich unwillentlich versteifte.
»Ja – und das wisst Ihr genau!«
Er lächelte spöttisch. »Immerhin hast du zumindest den Anschein erweckt, dass du stark mit uns sympathisierst! Du hast dem Admiral das Leben gerettet.«
Sie sah ihn an. »Ich habe Euch nicht vor diesem Anschlag gewarnt, weil Ihr Protestanten oder Katholiken seid, sondern weil ich verhindern wollte, dass etwas Schreckliches passiert«, erwiderte sie.
Er nickte gelassen. »Ich glaube dir, aber du solltest damit rechnen, dass ich nicht der Einzige bin, der dir diese Fragen stellt. Im Übrigen wird bestimmt keiner daran Anstoß nehmen, dass du Katholikin bist. Viele von uns haben Freunde und Familie, die nicht zum neuen Glauben übergetreten sind. Ich verspreche dir also, dass niemand versuchen wird, dich zu bekehren!«, sagte er, während er das Pferd auf eine schmale Steinbrücke zutrieb, die über den Fluss auf die andere Uferseite führte.
37
L a Bonnée war alles andere als ein einfaches Landhaus, musste Madeleine feststellen. Das hohe sandsteinfarbene Gebäude mit dem dunklen Schieferdach, das vor ihnen zwischen den Bäumen auftauchte, hatte die Ausmaße eines prächtigen Herrenhauses. Eine Mauer aus rohem Stein umschloss das Anwesen. Den Eingang zum Hof flankierten zwei mittelalterliche Wach türme, die Madeleine unweigerlich daran erinnerten, was Ronsard zuvor über die Entstehung der Schlösser und Paläste an der Loire erzählt hatte. Auch La Bonnée war früher sicherlich einmal eine Burg oder kleine Festung gewesen. Genau so sah es zumindest aus.
Ronsard ritt, ohne das Tempo zu verlangsamen, in den gepflasterten Hof ein. Die Wache, ein junger Mann in Kniebundhosen und weißem Hemd, der mit Muskete und Degen bewaffnet war, neigte grüßend den Kopf und schenkte ihnen einen neugierigen Blick.
Beklommen blickte Madeleine an sich herunter. Sie musste fürchterlich aussehen – in ihrem verschmutzten, eingerissenen Kleid und dem strähnigen Haar, das sie in den letzten Tagen nicht einmal mehr hatte richtig kämmen können. Philippe de Ronsard dagegen wirkte selbst nach ihrem widrigen Ritt durch den Wald und die Nacht im Freien noch elegant und gepflegt, wie sie verstohlen feststellte, als sie absaßen.
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