Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
festem Griff gehalten hatte, bis hin zu seiner offensichtlichen Attraktivität und seinem höflichen Gebaren, das keinen Zweifel ließ, dass er ein Edelmann von Stand war. Etwas an ihm war ihr unheimlich. Sie fragte sich, warum er einer jungen Frau wie ihr überhaupt Bedeutung beimaß. Zwischen ihrer beider Leben lagen Welten.
»Warum helft Ihr mir eigentlich?«, fragte sie.
Er hatte das auf einen Stock gespießte Fleisch über die Flammen des Feuers gelegt und wandte den Kopf zu ihr. Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Müsste die richtige Frage nicht vielmehr lauten, warum du uns geholfen hast? Wer hat dich überhaupt über den Anschlag informiert und zu uns geschickt, um uns zu warnen?« Er klang neugierig.
»Geschickt?« Erst dann begriff sie, was er meinte. Sie strich ihren klammen Rock glatt. »Niemand. Es war eher eine Art Vermutung …«, erwiderte sie zögernd.
»Eine Vermutung ?« Seine Augenbrauen zogen sich nach oben.
Sie nickte. Es war offensichtlich, dass es ihm schwerfiel, ihr das zu glauben. Seine Reaktion brachte ihr zu Bewusstsein, dass sie sich keinerlei Gedanken gemacht hatte, was sie den Hugenotten sagen sollte, wenn sie ihr diese Fragen stellten. Auch ihnen konnte sie unmöglich die Wahrheit erzählen. Sie musste etwas erfinden, etwas Glaubhaftes, das tatsächlich hätte so geschehen sein können, dachte sie nervös.
»Ich war auf dem Weg vom Kloster zum Wirtshaus, als ich die Männer des Herzogs gesehen habe …«, erklärte sie schließlich.
Er drehte einen der Spieße im Feuer und betrachtete sie. »Und ihr Anblick hat dir verraten, dass sie den Admiral und uns töten wollten?«
Sie zog den Umhang enger um sich. Die Ungläubigkeit, die in seiner Stimme schwang, war nicht zu überhören gewesen. »Nein, ich habe sie darüber reden gehört.«
»Tatsächlich?«
Sein Blick verriet Zweifel, und plötzlich fühlte sie sich, als würde er sie einem Verhör unterziehen.
»Der Weg vom Kloster führt ein Stück durch den Wald. Die Männer haben dort Rast gemacht und mich nicht gesehen …«, fuhr sie fort und brach ab. Gegen ihren Willen vermischten sich vor ihren Augen die Bilder ihrer Lüge mit denen ihrer Vision. Sie sah wieder alles vor sich – das Blut, die Toten, den Admiral, der mit durchschnittener Kehle auf dem Boden lag … »Verzeiht, aber es fällt mir schwer, darüber zu reden«, sagte sie tonlos.
Er schwieg. Schließlich nahm er einen der Spieße mit dem Hasenfleisch aus dem Feuer. »Hier, iss etwas, das wird dir guttun.«
Sie biss gehorsam ein Stück von dem Fleisch ab. Es schmeckte fade, doch sie spürte, wie ihr erschöpfter Körper nach der Nahrung gierte. Nach zwei Bissen legte sie den Spieß jedoch zur Seite.
»Warum habt Ihr mir eigentlich den Beutel mit den Münzen ins Kloster gebracht?«, fragte sie.
Er blickte sie erstaunt an. »Ich wollte dich in dieser Nacht eigentlich mitnehmen«, sagte er dann. »Wir wollten verhindern, dass du den Guise in die Hände fällst. Aber du hattest Fieber und warst kaum bei Bewusstsein. Deshalb habe ich dir zumindest die Münzen und die Wegbeschreibung nach La Bonnée dagelas sen … Zu diesem Zeitpunkt war allerdings nicht klar, welchen Aufwand der Herzog betreiben würde, um deiner habhaft zu werden. Deshalb habe ich mich schließlich noch einmal auf den Weg gemacht, um dich zu finden.« Er lächelte leicht. »Es war ein kluger Schachzug, mit den Gauklern zu reisen. Ich habe etwas gebraucht, bis ich dahintergekommen bin, dass du bei ihnen bist. Der Herzog d’Aumale fragt sich wahrscheinlich immer noch, wie er dich verlieren konnte.«
Sie schwieg wie betäubt, denn es erschien ihr noch immer wahnwitzig, dass sie sich durch ihr Eingreifen im Wirtshaus eine der mächtigsten Familien Frankreichs zum Feind gemacht hatte.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir werden dich vor den Guise schützen. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet. Du hast uns geholfen, und nun werden wir dir helfen!«
36
B ei Morgengrauen ritten sie weiter. Die Strecke führte sie einige Stunden durch den Wald, einen schmalen, mit Gras bewachsenen Pfad entlang, den man zwischen Sträuchern, Büschen und Bäu men kaum erkennen konnte. Zweimal hörte es sich so an, als wür den sich andere Reiter nähern, und sie mussten sich verstecken.
Ronsard trieb das Pferd durch das undurchsichtige Dickicht, ohne dass er dabei Schwierigkeiten zu haben schien, sich zu orien tieren. Kaum wahrnehmbar
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