Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Rücken zugewandt hatte. Beim Klang ihrer Schritte drehte er sich mit einer ruhigen Bewegung zu ihr.
Noch bevor die Äbtissin ihn ganz sehen konnte, stellte sie überrascht fest, dass sie den Mann, der dort vor ihr stand, noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
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E r trug einen schlichten Umhang, doch der weiß gefächelte Kragen, die schwere Kette, die er über seinem Wams trug, und seine fein gewebten Beinkleider ließen Margarète de Foix sofort wissen, dass er von hohem Stand war. Seine Haare und der Bart waren von einem dunklen, beinah schwarzen Ton. Sie umrahmten ein markantes Gesicht, dessen auffälligstes Merkmal ein Paar dunkle, bläulich schimmernde Schatten unter seinen Augen waren, die ihm unzweifelhaft etwas Diabolisches gaben. Der Mann musterte sie – durchaus freundlich und höflich, und obwohl er dabei keineswegs ein herablassendes und anmaßendes Verhalten wie der Herzog d’Aumale zur Schau stellte, spürte sie sofort die unausgesprochene Macht, die seine Person umgab.
Wer um Gottes willen war er? Sie richtete sich unwillkürlich ein Stück gerader auf.
»Verzeiht, dass ich mir die Freiheit nehme, Euch in Euren Klostermauern einen Besuch abzustatten«, sagte er mit tiefer Stimme, als hätte er die unausgesprochene Frage in ihren Augen lesen können. »Mein Name ist Pierre Lebrun.«
Sie hatte höflich den Kopf geneigt und blickte ihn abwartend an, denn sie hatte seinen Namen noch nie gehört.
Er deutete auf den Tisch mit den Besucherstühlen. »Wenn Ihr erlaubt, setzen wir uns vielleicht?«, fragte er und nahm, ohne ihre Antwort abzuwarten, Platz.
Sie tat es ihm gleich und ließ sich ihm gegenüber auf einem Stuhl nieder. »Ihr werdet mir vergeben, aber ich lebe seit vielen Jahren in der Abgeschiedenheit des Klosters, und Euer Name sollte mir sicherlich etwas sagen, doch leider ist dem nicht so.«
»Aber nein!«, erwiderte er. Einen Augenblick lang schien es beinah so, als würde ihn ihre Bemerkung amüsieren. »Es verwundert mich keineswegs, dass mein Name Euch nichts sagt …« Er schlug die Beine übereinander und legte seine gefalteten Hände darauf ab. An seinem Ringfinger glitzerte ein gelber Diamant. »Seht Ihr, ich bin eher ein Mann, der sich im Hintergrund hält. Für meine Arbeit ist es besser, wenn nicht jeder weiß, wer ich bin. Indessen befinde ich mich in den Diensten einer hochrangigen Person, deren Name Euch umso bekannter sein dürfte: Ihre Majestät, die Königinmutter – Catherine de Medici. In ihrem Auftrag bin ich übrigens auch hier«, erklärte er freundlich.
Margarète de Foix rang um Fassung. Catherine de Medici? »Ich verstehe nicht … Welches Interesse könnte Ihre Majestät an unserem bescheidenen kleinen Kloster haben?«
»Es geht um das Mädchen!«, erwiderte Lebrun geradeheraus.
»Welches Mädchen?«, fragte sie vorsichtig.
Er lächelte knapp. »Ich denke, Ihr wisst sehr genau, dass ich Madeleine Kolb meine!«
Sie schwieg, während sie zu begreifen versuchte, wie der Hof und allen voran die Medici überhaupt von Madeleines Existenz wissen konnten? Hatte sich das Eingreifen des Mädchens im Wirtshaus denn so schnell herumgesprochen?
»Ich würde gerne erfahren, wo sie ist«, sagte Lebrun höflich.
Die Äbtissin ließ sich ihren inneren Aufruhr nicht anmerken. »So gerne ich Euch helfen würde, das weiß ich leider auch nicht!«
Er musterte sie, und sie spürte, wie sie unter seinem durchdringenden Blick gegen ihren Willen ein Frösteln ergriff.
»Lassen wir diese Spiele, hochwürdige Mutter.« Er hatte sich aus seinem Stuhl erhoben und ging einige Schritte durch den Raum. »Soweit ich weiß, befindet Ihr Euch durch die Angelegenheit selbst in einigen Schwierigkeiten. Wie mir zugetragen wurde, hat sich der Kardinal de Lorraine persönlich beim Generalabt Eures Ordens über den Vorfall beschwert, und es wird zu einer Untersuchung darüber kommen, nicht wahr?« Er sah sie an. »Ich bin über all diese Dinge genauestens informiert – genauso wie über die Tatsache, dass dieses Mädchen, Madeleine Kolb, durch ihr Eingreifen einen Anschlag auf den Admiral de Coligny verhindert hat – wofür die Königinmutter, nebenbei bemerkt, sehr dankbar ist – und dann aus dem Kloster geflohen ist …«
Die Äbtissin erschrak. Wie konnte er über all diese Dinge Bescheid wissen? Sie fühlte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, denn sie erinnerte sich plötzlich, einmal gehört zu haben, dass die Königinmutter über ein beeindruckendes und gefährliches Netz von
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