Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
mitgeteilt.
Die Nachricht aus Clairvaux verwunderte Margarète de Foix nicht einmal. Es war zu erwarten gewesen, dass der Herzog d’Aumale die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde. Nun übte er mithilfe seines Bruders, des Kardinals de Lorraine, Druck auf die Ordensleitung aus.
Vielleicht konnte man seinem Schicksal einfach nicht entfliehen, dachte sie. Als sie als junge Frau in den Orden eingetreten war, hatte sie ein Leben in Klarheit und Reinheit gesucht – fernab von weltlichen Zwängen und Kompromissen. Ein leichtes Lächeln glitt über ihre Lippen, als sie sich an ihren damaligen Idealismus erinnerte. Sie entstammte von Geburt einem alten, aber verarmten Adelsgeschlecht, und ihre Eltern hatten sie einst mit einem einflussreichen Herzog verheiraten wollen, der vom Alter her hätte ihr Vater sein können. Als sie diese Verbindung ablehnte, die für ihre Familie äußerst vorteilhaft gewesen wäre, und stattdessen erklärte, ins Kloster eintreten zu wollen, war es zum Eklat mit den Ihren gekommen. Doch sie hatte sich von ihrer Familie nicht umstimmen lassen. Reichtum, Macht und Einfluss, das alles hatte sie nie interessiert, und sie hatte nie etwas damit zu tun haben wollen. Doch wie die jüngsten Ereignisse zeigten, machte die Welt nicht vor den Klostermauern halt. Sie unterdrückte ein Seufzen.
Immerhin kannte sie den Geistlichen, der die Untersuchung übernehmen würde – der Abbé Largentier war gleichermaßen be kannt für seine Strenge wie für seinen Gerechtigkeitssinn. Letzteres sprach dafür, dass man zumindest nicht gedachte, sie einfach der Macht des großen Kardinals de Lorraine zu opfern.
Ihr Optimismus über den Ausgang der Untersuchung hielt sich dennoch in Grenzen. Ihr Wort würde gegen das der Oberin stehen, und die Nonne hatte, seitdem der Herzog d’Aumale und seine Männer nach Madeleine suchten, jede Zurückhaltung aufgegeben. Wie Schwester Philippa ihr berichtet hatte, erzählte die Oberin hinter vorgehaltener Hand jedem, sie habe schon immer gewusst, dass Madeleine Kolb des Teufels sei. Es sei dem Mädchen sogar gelungen, sie, die Äbtissin, zu beeinflussen. Margarète de Foix zog die Stirn in Falten angesichts dieses Unsinns! Unglücklicherweise verhielt es sich jedoch auch mit den abwegigsten Gerüchten so, dass sie – wenn sie nur lange genug die Runde machten – irgendwann für die Wahrheit gehalten wurden. Sie wusste, dass sie die Angelegenheit unter Umständen ihr Amt als Äbtissin kosten konnte, doch wenn Gott diesen Weg für sie auserkoren hatte, würde sie ihn annehmen.
Als sie sich wenig später vom Tisch erhob und vor dem kleinen Altar in ihrem Arbeitszimmer zum Gebet niederkniete, bat sie Gott inständig, ihr Kraft und innere Stärke zu schenken. Ihr Gewissen war rein. Sie hatte dem jungen Mädchen lediglich vor Augen geführt, was sie erwarten würde. Sie gab zu, dass sie erleichtert war, dass Madeleine sich dann zur Flucht entschieden hatte, doch es war ihre eigene Entscheidung gewesen.
Einen kurzen Augenblick lang sah sie im Geiste Elisabeth Kolbs verzweifeltes Gesicht vor sich. Gott möge es verhindern, aber falls mir etwas zustößt, nehmt Euch meiner Tochter an, so wie Ihr Euch einst meiner angenommen habt. Margarète de Foix wünschte von ganzem Herzen, sie hätte mehr für Madeleine tun können.
Begleite sie auf ihrem schwierigen Weg, allmächtiger Vater, denn sie bedarf deines Schutzes , betete sie im Stillen für das junge Mädchen, als sie ein Klopfen an der Tür unvermittelt aus ihrem Zwiegespräch mit Gott riss.
Schwester Elénore war auf der Schwelle aufgetaucht. »Verzeih hochwürdige Mutter, da ist ein Mann eingetroffen, der Euch zu sprechen verlangt.«
Die Äbtissin runzelte unwillig die Stirn angesichts des Wörtchens »verlangt« , da die Formulierung wieder einmal allzu sehr nach dem Herzog d’Aumale klang. Wer sonst würde sie hier aufsuchen? Sie richtete sich seufzend auf und strich ihr Gewand glatt. Weshalb um Gottes willen wünschte er, sie erneut zu sehen? Er war mehrere Male hier gewesen, und sie hatte gehofft, er wäre inzwischen längst auf den Stammsitz der Guise nach Joinville zurückgekehrt. Am liebsten hätte sie ihn abgewiesen, doch ihr war klar, dass sie ihn damit nur noch weiter gegen sich aufgebracht hätte.
»Ich komme!«, sagte sie und folgte der Novizin den langen Gang entlang zum Besucherzimmer.
Als sie durch die große Tür über die Schwelle trat, sah sie einen Mann von mittlerem Wuchs am Fenster stehen, der ihr den
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