Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Einzig sein Bart hatte ein wenig seine akkurate Form verloren.
Madeleine schaute sich eingeschüchtert im Hof um. Von Nahem war das Anwesen, dessen wahre Ausmaße zum Teil durch die Mauern verdeckt wurden, noch imposanter, als sie vermutet hätte. Ställe und mehrere größere Nebengebäude, die die gleiche mittelalterliche Bauweise wie die Mauern und Wachtürme aufwiesen, gehörten zu dem Herrenhaus, dessen Fensterläden verschlossen waren.
»Komm. Ich werde dich erst einmal zu Madame Maineville bringen. Sie ist die Haushälterin und Verwalterin von La Bonnée«, sagte Ronsard, und sie folgte ihm zu einem großen rechteckigen Haus.
Ein verheißungsvoller Duft von frischem Brot und gekochtem Essen schlug ihnen in der Tür entgegen. Madeleines Magen zog sich schmerzhaft vor Hunger zusammen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seit Tagen keine vollständige Mahlzeit mehr gegessen hatte.
Ronsard stieß die Tür mit dem Fuß auf und blickte sich suchend um. In der Küche, einem großen lang gestreckten Raum, in dem sich mehrere Holztische befanden, ein Steinofen und die größte Feuerstelle, die Madeleine jemals gesehen hatte, herrschte emsiger Betrieb. Eine Magd schälte Gemüse, eine weitere schichtete Holz in der Feuerstätte, und eine Alte mit Kopftuch rupfte ein Huhn, das von einer weiteren Frau argwöhnisch begutachtet wurde. »Was ist das denn für ein mageres Exemplar, Elise? Hat Jérôme nichts anderes zum Schlachten gefunden?«, fragte sie auf gebracht und schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick nahm sie die Besucher in der Küche wahr und drehte sich zu ihnen. Ein Strahlen erhellte ihr rundliches Gesicht, das von einer steifen weißen Haube umrahmt wurde.
»Oh, Monsieur de Ronsard, wie schön, Euch zu sehen.« Sie eilte mit schnellen Schritten auf die beiden zu.
Ronsard küsste ihre Hand und schenkte den beiden Mägden ein charmantes Lächeln, die als Antwort darauf mit geröteten Wangen in einen Knicks sanken.
»Das ist Madeleine Kolb«, stellte er vor.
Einen kaum wahrnehmbaren Moment glitt der Blick der Haushälterin verwundert an ihr herunter, doch dann schenkte sie ihr ein warmes Lächeln. »Willkommen!«, begrüßte sie die junge Frau voller Herzlichkeit, bevor sie sich wieder zu Ronsard wandte.
»Wie geht es Euch?«, fragte sie besorgt. Sie fasste ihn in einer vertraulichen Geste am Arm. »Ich habe gehört, was geschehen ist«, sagte sie mit ernster Miene. »Stimmt es, dass Lescot es nicht geschafft hat?« Ihre Stimme war leiser geworden, und sie waren einige Schritte weitergegangen, um von den Mägden nicht gehört zu werden.
Ronsard nickte. »Ja, leider«, bestätigte er.
»Schrecklich. Der Junge war nicht einmal fünfundzwanzig!« Madame Maineville sah Ronsard erschüttert an. »Und dennoch muss man dem Herrgott wieder einmal danken, dass er über den Admiral und Euch andere seine schützende Hand gehalten hat …«
Ronsard zeigte den Anflug eines Lächelns. »In diesem Fall solltet Ihr weniger dem Herrgott danken als dieser jungen Dame. Madeleine hat uns vor dem Anschlag gewarnt … Ich glaube nicht, dass wir sonst entkommen wären.«
Madame Maineville hatte sich erstaunt zu Madeleine gedreht, die verlegen ihren Kopf senkte, und ergriff voller Wärme ihre Hand. »Wie sollen wir dir das nur danken, mein Kind?«
»Sie wird etwas bei uns bleiben. Verständlicherweise sind die Herren de Guise hinter ihr her. Der Admiral weiß über alles Bescheid«, teilte Ronsard ihr mit.
»Ich werde mich um alles kümmern!«, versprach Madame Maineville.
»Danke!« Er nickte und wollte sich zum Gehen wenden, als er sich noch einmal umdrehte. »Ich habe ihr übrigens versprochen, dass niemand versuchen wird, sie zu bekehren. Sie ist nämlich Katholikin«, sagte er spöttisch.
Madeleine spürte, dass alle in der Küche sie anstarrten. Ungläubig blickte sie Ronsard hinterher.
38
M argarète de Foix legte den Brief, den ein Bote in den frühen Morgenstunden ins Kloster gebracht hatte, mit nachdenklicher Miene zur Seite. Das Schreiben kam aus Clairvaux – vom Mutterkloster. Es würde also tatsächlich eine Untersuchung geben! Ihr Gesicht unter der weißen Haube nahm einen angespannten Ausdruck an, denn sie war sich des Ernstes der Situation durchaus bewusst. Der Generalabt des Ordens hatte höchstpersönlich einen Pater seines Vertrauens mit der Aufgabe betraut, die Vorfälle in St. Angela zu untersuchen. Der Abbé Largentier würde nächste Woche im Kloster eintreffen, so hatte man ihr
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