Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
vorging, denn sein Gesicht nahm fast augen blicklich wieder einen ernsten Ausdruck an.
»Komm, lass uns ein paar Schritte gehen. Wir müssen miteinander reden«, sagte er in einem beiläufigen Ton.
Sie nickte und versuchte, sich ihre Irritation über seinen Stimmungswechsel nicht anmerken zu lassen.
»Hat der Bote vorhin schlechte Nachrichten gebracht?«, fragte sie, als sie durch einen Durchgang den Garten erreichten.
Sie nahm wahr, dass er kurz stutzte, während er ihr sein ebenmäßiges Gesicht zuwandte. »Woher weißt du von dem Boten?«
»Ich habe seine Ankunft zufällig durchs Fenster beobachtet«, erwiderte sie.
»Erstaunlich, was du alles mitbekommst!« Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ sie wieder an das Gespräch zwischen ihm und Vardes denken, das sie unfreiwillig im Stall mitgehört hatte.
»Ihr traut mir nicht!«, stellte sie fest.
Er drehte sich verwundert zu ihr. »Warum sollte ich dir nicht trauen?«
»Ihr glaubt mir nicht, wie ich von dem Anschlag im Wirtshaus erfahren habe«, fügte sie hinzu.
Er schaute sie verständnislos an.
»Ich habe Euer Gespräch mit Monsieur de Vardes vor dem Stall mit angehört.«
Er musterte sie erneut überrascht. »Das tut mir leid«, sagte er dann. »Aber dann wirst du auch mitbekommen haben, dass ich Monsieur de Vardes nur versucht habe zu beruhigen …«
Sie schwieg. Einen Moment lang glitt ihr Blick über das ausgedörrte Grün des Gartens.
»Du darfst es Monsieur de Vardes nicht übel nehmen«, meinte Ronsard leichthin. »Er ist für die Sicherheit des Admirals verantwortlich, und es gefällt ihm bestimmt nicht sonderlich, dass er es ausgerechnet einer katholischen Klosterschülerin verdankt, dass Monsieur de Coligny und wir alle noch am Leben sind.«
Sie blickte ihn an und musste an die Worte von Nicolas de Vardes denken. Sie hatte nicht das Gefühl gehabt, dass das der Grund für sein Verhalten gewesen war – im Gegenteil. In gewisser Weise hatte sie sogar den Eindruck gehabt, dass Vardes ihr gegenüber einfach nur ehrlich gewesen war.
»Warum wolltet Ihr mit mir sprechen?«, fragte sie schließlich.
»Wir werden La Bonnée verlassen.«
Madeleine blieb stehen. »Weshalb?«, fragte sie erstaunt.
»Es hat etwas mit der Nachricht zu tun, die uns der Bote gebracht hat, aber es ist besser, wenn du so wenig wie möglich davon weißt«, erwiderte er knapp.
Sie nickte. »Und wann werdet Ihr aufbrechen?«
»Wir«, korrigierte er sie. »Du wirst mitkommen!«
Sie schaute ihn verwirrt an.
»Wir werden die meisten Leute hier abziehen. La Bonnée wird daher nicht mehr sicher sein«, sprach er weiter.
Madeleine spürte, wie sie ein beklemmendes Gefühl ergriff, als ihr bewusst wurde, dass sie erneut auf der Flucht sein würde. Welche Nachricht konnte der Bote nur gebracht haben? Würde es etwa Krieg geben?
»Und wohin werden wir gehen?«
»Richtung Norden. Nach Châtillon-sur-Loing …«
Ungläubig blickte Madeleine ihn an. Obwohl sie noch nie dort gewesen war, hatte sie selbstverständlich schon von dem Ort gehört. Es war der Stammsitz des Admirals de Coligny und seiner Familie – den Seigneurs de Châtillon.
45
M an hatte beschlossen, dass sie nur in kleinen Gruppen von sechs bis acht Leuten aufbrechen würden, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erwecken. Madeleine sollte mit der ersten Truppe reisen, die von Vardes angeführt wurde. Außer ihnen beiden würden sich noch Guillaume, der Gascogner Clément – der bei dem Vorfall im Wirtshaus mit dabei gewesen war – und zwei Niederländer und Franzosen, die sie nicht kannte, bei ihnen befinden. »Ich werde erst später in Châtillon zu Euch stoßen«, teilte ihr Ronsard mit, der noch einen anderen Auftrag zu erledigen hatte.
Auch Madame Maineville würde vorerst nicht mit ihnen kommen. Obwohl Madeleine sie kaum ein paar Tage gekannt hatte, bedauerte sie, sich von der Haushälterin verabschieden zu müssen. Etwas in ihrem Wesen und ihrer Bereitschaft, für andere da zu sein, hatte sie an Schwester Philippa erinnert.
Eine hektische Aufbruchsstimmung hatte La Bonnée erfasst. Man drängte zur Eile. Wieder ein Ort und Menschen, die sie verlassen musste, schoss es Madeleine durch den Kopf, als sie die wenigen Sachen, die sie von Madame Maineville bekommen hatte, zu einem Bündel schnürte und sich zu den Ställen begab, wo die anderen bereits warteten.
Vardes hatte ein Pferd für sie satteln lassen – einen hochgewachsenen Rappen namens Apollo, dessen Anblick Madeleine in blankes
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