Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
diese Vorahnung jetzt wahrscheinlich beide tot wären. Für einen kurzen Augenblick verspürte sie einen Anflug von Dankbarkeit.
»Geht es?«, fragte Vardes.
Madeleine nickte. Er half ihr, aufzustehen und zu ihrem Pferd zu gehen.
»Warte hier!«, sagte er dann.
Sie strich Apollo, der sich ebenso wie Vardes’ Wallach in den Schutz der Bäume geflüchtet hatte, mit zittrigen Händen über das Fell, während sie beobachtete, wie Vardes zu dem toten Bogenschützen ging. Er zog das Messer aus der Kehle des Mannes und nahm seinen Umhang genauer in Augenschein – ein kleines weißes Kreuz war darauf zu sehen. Dann kam er auch schon wieder zurück.
»Wirst du reiten können? Wir müssen hier, so schnell es geht, weg«, sagte er mit besorgter Stimme.
»Ja, mir geht es gut«, sagte sie, obwohl das Gegenteil der Fall war.
Er ritt dicht neben ihr. »Dieses Mal muss ich dir wohl wirklich danken. Ohne dich wäre ich mit einem Pfeil im Rücken hier im Wald verendet.«
Sie ignorierte die unausgesprochene Frage, die in seinem Unterton schwang.
»Dafür habt Ihr mir im Wirtshaus das Leben gerettet«, erwider te sie. Ihr ganzer Körper fühlte sich noch immer wie erstarrt an.
»Du erinnerst dich also doch daran?« Er wandte ihr das Gesicht zu und bedachte sie mit einem seltsamen Blick. »Willst du mir nicht sagen, was da eben geschehen ist?«, fragte er schließlich.
»Ich habe auf der anderen Seite der Lichtung eine Bewegung zwischen den Bäumen gesehen – und dann die Umrisse der Armbrust erkannt«, log sie. Es fiel ihr in beängstigender Weise zunehmend leichter, Erklärungen zu erfinden, merkte sie.
»Wirklich? Du hast aber kein einziges Mal zur anderen Seite der Lichtung geschaut«, stellte er ruhig fest.
»Es war nur kurz!« Sie presste die Lippen zusammen. Ihr Gesicht war blass. Zu ihrer Erleichterung fragte er nicht weiter. Sie dachte an den Bogenschützen. Das Bild von ihm, wie er mit dem Messer in der Kehle zu Boden sank, würde sich ihr für immer einprägen. »Wer war der Mann?«, fragte sie zögernd.
Vardes zuckte die Achseln. »Jemand, der für eine dieser geheimen katholischen Ligen kämpft. Das weiße Kreuz auf seinem Umhang deutet zumindest darauf hin. Vielleicht auch ein Mann der Guise – oder beides.«
Madeleine fiel erneut auf, dass er angespannt wirkte. Er taxierte die Bäume und Sträucher, als würde er erwarten, dass dort jeden Moment jemand zum Vorschein käme. Sie fragte sich, wie der Bogenschütze überhaupt von ihnen hatte wissen können und in der Einsamkeit der Wälder auf sie gestoßen war.
»Wir müssen uns beeilen, um so schnell wie möglich wieder auf die anderen zu treffen. Der Mann ist bestimmt nicht allein gewesen«, sagte Vardes, der den gleichen Gedanken zu haben schien.
Madeleine nickte. Wenigstens ihre Angst vor dem Pferd hatte sich durch den schrecklichen Vorfall etwas gelegt, und sie spürte, dass Apollo im Gegensatz zu vorher auf das leiseste Kommando von ihr reagierte, als sie nun das Tempo beschleunigten.
Vardes führte sie über schmale Pfade zurück zu dem ursprünglichen Weg. Doch von den anderen fehlte jede Spur. Beinah eine Stunde jagten sie im gestreckten Galopp durch den Wald. Sie waren fast schon überzeugt, sie vollständig verloren zu haben, als sie an einer Lichtung endlich die Abdrücke ihrer Pferde wiederfanden.
Sie erhöhten ihre Geschwindigkeit und stießen schließlich nur eine halbe Meile weiter auf die Männer, die gerade am Ufer eines Teichs von den Pferden absaßen. Die Art, wie sie herumfuhren und nach ihren Waffen griffen, zeigte deutlich ihre Anspannung. Wie sich herausstellte, war es in der Zwischenzeit zu einem Gefecht gekommen. Guillaume war verletzt worden.
Ein kleines Stück hinter dem Graben hatten sich ihnen mehrere bewaffnete Männer in den Weg gestellt. »Es waren vielleicht fünf oder auch sechs«, berichtete Clément. Es ging alles sehr schnell. »Nachdem wir zwei von ihnen erledigt hatten, sind die anderen geflohen.« Er blickte Vardes an. »Ich frage mich, wie sie auf unsere Spur kommen konnten«, sagte er schließlich.
Vardes schwieg. »Wir werden unsere Route ändern. Für alle Fälle.«
Während sich die Männer untereinander beratschlagten, ging Madeleine zu Guillaume, der etwas abseits mit bleichem Gesicht an einem Baumstamm lehnte und sich den Arm hielt. Sein Hemd war blutverschmiert.
Sie ging neben ihm in die Knie. »Ist es schlimm?«, fragte sie sanft.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mehr als ein Kratzer. Einer
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