Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
jungen Niederländer war die Aufgabe zugekommen, ihrem Zug ein Stück vorauszureiten, um sie vor unliebsamen Überraschungen zu warnen. Sie hatte die Worte, die die beiden gewechselt hatten, nicht genau verstehen können, aber dennoch hatte sie die Bewunderung und den Stolz in Guillaumes Augen gesehen, als Vardes ihm die Hand auf die Schulter legte und eindringlich mit ihm sprach.
Sie schaute verstohlen zu ihm hinüber und betrachtete die hellen Linien seiner Narbe. Woher diese Verletzung wohl stammte? Als wäre ein Degen in mehreren Hieben über sein Gesicht gefahren, dachte sie und erschauerte, als sie dieses Bild mit einem Mal gegen ihren Willen vor Augen hatte. Zu spät bemerkte sie, dass Vardes ihren Blick mitbekommen hatte. Ein kalter Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht.
Sie drehte verlegen den Kopf weg, doch dann sah sie ihn an. »Verzeiht, ich wollte nicht unhöflich sein …«, erklärte sie ehrlich. »Ich hatte mich nur gefragt, woher Eure Narben wohl stammen!«, fügte sie etwas leiser hinzu.
Einen Augenblick lang schienen seine graugrünen Augen sie erneut zu durchdringen.
»Tatsächlich? Das hast du dich gefragt?«, erwiderte er schließlich spöttisch. »Erzähl mir lieber etwas über dich«, sagte er dann. »Du hast bei den Zisterzienserinnen gelebt, bevor du zu uns Ketzern gekommen bist. Wie hat es dir im Kloster gefallen?«
Madeleine senkte den Kopf. »Ich hatte keine Wahl«, antwortete sie schließlich, ohne auf seinen provozierenden Unterton einzugehen. »Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben und hat verfügt, dass ich nach ihrem Tod dorthin komme.«
»Dann hast du keine andere Familie mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr fiel auf, dass sie für kurze Zeit ihre Angst auf dem Pferd völlig vergessen hatte. »Nein!«, sagte sie, als sie beide plötzlich sahen, dass Guillaume vom anderen Ende des Weges auf sie zugeprescht kam. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes.
»Reiter. Eine ganze Truppe. Nicht einmal eine Viertelmeile von hier«, stieß er außer Atem hervor, als er vor Vardes zum Halten kam. »Sie kommen direkt auf uns zu!«
Madeleine spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
»Eine Viertelmeile, sagst du?«, fragte Vardes.
Guillaume nickte. »Ja, sie sehen nach irgendwelchen katholischen Ligatruppen aus«, fügte er hinzu.
Vardes fuhr auf seinem Wallach zu den anderen herum. »Zum Fluss hinunter, sofort«, entschied er.
Eh es sich Madeleine versah, trieben die Männer ihre Pferde direkt ins Dickicht hinein. Apollo wartete nicht einmal auf ihr Kommando, sondern folgte den anderen Pferden, als würde er die Gefahr instinktiv spüren. Angst ergriff sie, denn das Tempo wurde mit einem Mal empfindlich schneller. Zweige und Äste schlugen ihr gegen die Arme und ins Gesicht, und sie versuchte, sich voller Panik auf dem Rücken des Rappen zu halten. Dann sah sie zu ihrem Entsetzen, dass die Männer geradewegs ins Wasser ritten, wo man ihren Spuren nicht würde folgen können. Sie erstarrte. Nein! Sie wollte Apollo zum Stehen bringen, doch Vardes, der hinter ihr war, ließ ihr nicht die Möglichkeit, langsamer zu reiten.
Angsterfüllt drehte sie sich zu ihm. »Das kann ich nicht!«, stieß sie hervor, aber er schien sie nicht zu hören, sondern trieb mit einem kehligen Laut ihre beiden Pferde weiter an. Apollo preschte vorwärts.
Im selben Augenblick spritzte schon das Wasser an ihr hoch. Der Fluss war nicht tief – er umspielte gerade einmal den Bauch der Tiere –, doch ihre Füße und ihr Rock waren im Nu bis zu den Knien durchnässt. Die Kälte raubte ihr für einen Moment den Atem. Da die Pferde gegen den Widerstand des Wassers angehen mussten, wurden sie jedoch wenigstens etwas langsamer. Verkrampft hielt sich Madeleine im Sattel. Bestimmt eine Meile kämpften sie sich so durch den Fluss vorwärts, bevor sie die Uferböschung wieder hochritten.
Sie kehrten nicht zu dem ursprünglichen Weg zurück, sondern blieben im Schutz des Dickichts, auf einem schmalen, kaum sichtbaren Pfad. Die Pferde stoben mit neuer Kraft vorwärts, angetrieben von den Männern, die nun im gestreckten Galopp weiterjagten. Es war schlimmer als ein Albtraum, und Madeleine war sich sicher, dass ihre Angst durch nichts mehr zu steigern war, als sie erkannte, dass sich vor ihnen ein tiefer Graben auftat, über den sie springen mussten.
»Halt dich an der Mähne fest«, rief Vardes ihr zu, der ihren verzweifelten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Sehr viel mehr blieb ihr auch nicht übrig – starr vor
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