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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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nichts davon merkte und, sobald sie sich unter ihrem Umhang zusammengekauert hatte, sofort einschlief.
    In dieser Nacht hatte sie wieder den Traum. Sie rannte durch diese Stadt mit den hohen hellen Häusern, über deren Dächern sich im Mondlicht die Umrisse der Türme von Kirchen und einer Kathedrale zeigten. Wieder war überall Blut, und Männer kämpften gegeneinander. Die Bilder waren diesmal noch klarer und eindringlicher als beim ersten Mal. Sie sah einen breiten Fluss und eine steinerne Brücke. Jemand schrie ihr etwas zu, und sie bemühte sich voller Angst, schneller zu laufen, getrieben von dem schrecklichen Schuldgefühl, dass sie zu spät kam und das Unglück hätte verhindern können. Eine Stimme rief ihren Namen, und sie schrie auf …
    In diesem Augenblick spürte sie eine Hand an ihrem Arm, und sie fuhr erschrocken aus den Tiefen ihres Schlafs hoch. Jemand hatte sich im Halbdunkeln zu ihr gebeugt und schüttelte sie leicht. »Madeleine!«, flüsterte eine raue Stimme. Sie erkannte Nicolas de Vardes. »Du hast geträumt«, sagte er.
    Ihr Atem ging noch immer schnell.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Sie nickte und wollte etwas sagen, doch sie fand keine Worte. Der Traum war noch immer zu nah und real. Dann erinnerte sie sich plötzlich an die Stimme, die im Traum nach ihr gerufen hatte. Es war seine, Nicolas de Vardes’ Stimme gewesen! Was hatte das alles zu bedeuten? War es wirklich nur ein Traum? Madeleine spürte, wie sie zu zittern begann.
    »Ist ja gut!«, sagte er leise. Er strich ihr sanft übers Haar und schaute sie an. Etwas in seinem Blick verwirrte sie. Einen Moment lang glaubte sie, er würde sie in seine Arme ziehen, und sie wünschte sich nichts mehr als das, doch dann wandte er sich mit einem Mal ab und stand wieder auf.
    Sie sah ihm im Halbdunkel hinterher, wie er an den schlafen den Männern vorbeiging und zwischen zwei mächtigen alten Eichen verschwand, hinter denen er seinen Posten bezogen hatte.
    Ihr Atem hatte sich wieder beruhigt, doch an Schlaf war nicht zu denken. Sie wartete kurz und erhob sich dann von ihrem Lager.
    Nicolas de Vardes saß auf einem umgestürzten Baumstamm, den Rücken gegen eine der Eichen gelehnt. Er hielt nachdenklich einen Zweig in der Hand.
    Überrascht blickte er auf, als sie zu ihm kam.
    »Löst Euch niemand ab?«, fragte sie. Sie ließ sich ein Stück neben ihm nieder und zog unter ihrem Umhang die Knie zu sich heran.
    »Nein, aber es macht mir nichts aus. Ich könnte ohnehin nicht schlafen«, erwiderte er. »Eine dumme Angewohnheit aus dem Krieg.«
    Sie wandte den Kopf zu ihm. Tatsächlich wirkte er nicht einmal müde.
    »Hast du von dem Mann geträumt, dem Bogenschützen?«, fragte er.
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war ein anderer Traum, einer, den ich schon einmal hatte …« Sie verstummte.
    Vardes drehte sich zu ihr. »Erzähl mir davon!«, forderte er sie auf.
    »Er ist schrecklich«, sagte sie abwehrend.
    Vardes lächelte kaum wahrnehmbar. »Ich werde es verkraften!«
    Sie zögerte, doch die nächtliche Atmosphäre, in der sie im Halbdunkel nur die Umrisse seines Gesichts erkennen konnte und seine raue Stimme umso eindringlicher wahrnahm, ließ sie eine plötzliche Nähe zu ihm empfinden.
    »Es gibt keinen wirklichen Anfang«, begann sie. »Ich erinnere mich erst an den Moment, in dem ich bereits renne – durch eine Stadt mit hohen, hellen Häusern. Es ist Nacht – über den Dächern kann man die Türme von Kirchen und einer Kathedrale erkennen«, erzählte sie. »Die Straßen sind blutbefleckt, und überall kämpfen Männer. Und ich laufe und laufe, wie getrieben, vorbei an Sterbenden und Toten …« Sie brach beklommen ab, weil sie mit einem Mal wieder alles vor sich sah.
    Vardes hatte den Zweig aus der Hand gelegt.
    »Und kennst du die Stadt, durch die du läufst?«
    »Nein«, erwiderte Madeleine bedrückt. »Obwohl ich sie im Mondlicht in aller Deutlichkeit vor mir sehe, gibt es sie nur in der Fantasie meines Traums. Die Häuser sind mehrgeschossig und aus hellem Sandstein, und ein breiter Fluss führt durch die Stadt, in deren Mitte eine Art Insel liegt, auf der befinden sich Häuser und eine große mächtige Kathedrale mit zwei eckigen Türmen …«
    »Eine Insel mit einer Kathedrale, die eckige Türme hat? Das ist Paris mit Notre-Dame«, stellte er erstaunt fest.
    Sie wandte den Kopf zu ihm. Ein eigenartiges Gefühl ergriff sie. »Das kann nicht sein. Dort war ich noch nie!«, erwiderte sie.
    »Vielleicht hast du schon

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