Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
der Degen hat mich touchiert«, antwortete er, doch sie sah den Schweiß, der auf seiner Stirn perlte.
»Lass mal sehen«, sagte sie und schob seine Hand zur Seite. Sie schob den Ärmel vorsichtig hoch. Es war weit mehr als ein Kratzer, stellte sie fest. Die Klinge hatte lang und tief ins Fleisch geschnitten, und die Wunde blutete noch immer heftig.
Die Verletzung hätte dringend versorgt werden müssen, doch hier war das kaum möglich. »Ich muss das wenigstens abbin den!«, sagte sie zu Guillaume. »Mit irgendetwas Sauberem. Warte mal …« Sie sah, dass die anderen Männer noch immer die neue Route besprachen. Kurz entschlossen erhob sie sich und ging zu ihrer Satteltasche. Sie holte ein Schultertuch hervor, das zu einem der beiden Kleider gehörte, die Madame Maineville ihr geschenkt hatte, und kehrte damit zurück. Schwester Philippa hatte ihr einmal gezeigt, wie man eine Wunde abband, als sich eine der Nonnen in der Küche einen gefährlichen Schnitt an der Hand zugefügt hatte. Sie versuchte, sich an ihre Anweisungen zu erinnern, während sie das Tuch fest um seinen Arm band. »Du solltest ihn möglichst wenig bewegen«, empfahl sie anschließend.
»Ich werd’s versuchen«, sagte Guillaume. »Danke«, fügte er dann mit einem schiefen Lächeln hinzu.
Sie lächelte leicht. »Ich werde dir etwas zu trinken holen«, erwiderte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Nicolas de Vardes zu ihnen herüberschaute. Er kam auf sie zu.
»Wirst du dich auf dem Pferd halten können?«, fragte er, zu Guillaume gewandt.
Der junge Niederländer nickte. »Das dürfte nicht weiter schwierig sein.«
Madeleine schaute Vardes an. »Wie lange werden wir bis Châtillon brauchen?«, fragte sie.
»Wenn nichts dazwischenkommt, werden wir morgen Abend dort sein. Wir werden einen Umweg machen müssen«, fügte er hinzu, da Châtillon ursprünglich nur einen guten Tagesritt von La Bonnée entfernt lag.
47
S ie brachen sofort auf. Aus Rücksicht auf Guillaume legten sie ein langsameres Tempo vor. Clément übernahm die Position des jungen Niederländers und ritt ihnen voraus.
Die Männer sprachen kaum, und es herrschte eine gespenstische Stille, in der man nur den gedämpften Hufschlag der Pferde auf dem weichen Waldboden hören konnte.
Madeleine kam es so vor, als wenn sie nicht erst einen Tag, sondern bereits seit Wochen in den dunklen Wäldern unterwegs wären. Sie bemerkte, dass Nicolas de Vardes ihr von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick zuwarf. Er ahnte, dass sie nicht die Wahrheit gesagt hatte, das war ihr bewusst.
Sie musste an den Bogenschützen denken und erinnerte sich plötzlich daran, was Nicolas de Vardes zu ihr gesagt hatte, als sie in La Bonnée vor dem Stall aufeinandergetroffen waren. Du bist da in etwas hineingeraten, aus dem du dich lieber hättest heraushalten sollen. Sie hatte sich von seinen Worten angegriffen gefühlt, doch nun verstand sie mit einem Mal, was er damit hatte sagen wollen. Es würde für sie keinen Weg mehr zurück geben. Madeleine spürte, wie sie ein leichtes Frösteln überkam. Sie ahnte, dass es erneut zum Krieg kommen würde. Auch wenn ihr niemand gesagt hatte, welche Nachrichten der Bote, der nach La Bonnée gekommen war, gebracht hatte, ließ das Verhalten der Männer – ihr übereilter Aufbruch und die Anspannung, die sie in ihrer aller Gesichter seitdem lesen konnte – kaum einen anderen Schluss zu. Sie hatte Angst davor. Sie sah wieder den Toten mit dem Messer in der Kehle vor sich und dachte an die Vorfälle im Wirtshaus und an ihre Flucht und fragte sich, warum all diese furchtbaren Dinge in ihrem Leben mit einem Mal so alltäglich geworden waren. Sie sehnte sich nach früher zurück, nach der Unbeschwertheit der Jahre, als ihre Mutter noch lebte und es ihr größtes Glück war, dem alten Apotheker Legrand beim Abwiegen und Messen seiner Zutaten zu helfen. Es schien ihr wie ein anderes Leben, das nicht sie, sondern eine andere Person gelebt hatte. Ihre Hand glitt unwillkürlich zu dem Anhänger an ihrer Kette, der die einzige Erinnerung an diese Zeit war.
Mit Einbruch der Nacht schlugen sie weitab des Weges ein Lager auf. An dem wolkenfreien Himmel zeigten sich die Sterne. Der helle Halbmond spendete ihnen glücklicherweise etwas Licht, denn sie wagten nicht, ein Feuer zu entzünden. Madeleine baute sich wie die Männer aus Zweigen und Blättern ein Lager. Trotz der Decke, die sie darüberlegte, war es hart und unbequem. Doch sie fühlte sich so erschöpft, dass sie
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