Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
nicht mehr und war wieder ein Stück von ihr abgerückt.
Ein leichter Schwindel erfasste sie. Es traf sie, dass er im Gegensatz zu ihr trotz seiner Leidenschaft so vollständig die Kontrolle über sich zu haben schien. Sie fühlte sich plötzlich zurückgewiesen. Ihr wurde bewusst, dass sie beinah bereit gewesen wäre, sich ihm hinzugeben – und noch dazu hatte sie ihn als Erste geküsst. Was war nur in sie gefahren? Ein Schamgefühl durchflutete sie, und sie sprang abrupt auf.
Er blickte sie überrascht an. »Madeleine …«
»Verzeiht!«, stieß sie hervor und hatte sich, bevor er etwas erwidern konnte, schon umgedreht und war zurück zu ihrem Lager geflüchtet.
48
» C atherine?« Madame Maineville lief in ihrem schwarzen Kleid und der weißen Haube mit zügigen Schritten über den Hof zu den Vorratsgebäuden. Ihr Gesicht hatte einen verärgerten Zug angenommen. »Catherine!«, rief sie erneut laut. Wo steckte die Magd nur? Mehr als eine halbe Stunde war es her, dass sie sie mit dem Schlüssel in die Vorratskammer geschickt hatte, um neues Mehl zu holen. Die Haushälterin unterdrückte ein Seufzen. Seitdem die Männer aus La Bonnée abgereist waren, neigte das Gesinde zu einer gewissen Nachlässigkeit. Als würden die Mägde und Knechte spüren, dass das Ende der letzten unbeschwerten Stunden nahte. Sie konnte es ihnen nicht einmal übel nehmen – sie alle wussten, was auf sie zukam, wenn tatsächlich wieder ein Krieg ausbrach. Madame Maineville hoffte indessen inständig, dass Gott ihnen diese Prüfung ersparte. Was gab es Schrecklicheres als den Bruderkrieg, bei dem sich die Menschen im eigenen Land gegenseitig bekämpften?
Und dennoch mussten sie sich darauf vorbereiten. Vorräte wurden aufgestockt, Medikamente besorgt, Waffen versteckt und die Mauern des mittelalterlichen Anwesens unauffällig verstärkt, denn La Bonnée sollte im Notfall als heimliches Versteck und Versorgungsstützpunkt dienen können.
Die Haushälterin öffnete die schwere Tür zu den Vorratsräumen – sie war nur angelehnt. Suchend schaute sie sich um.
Es war kühl in den Räumen, die von dicken Steinmauern geschützt wurden. In den Wänden befand sich kein Fenster, sondern nur ein schmaler Lichtschacht, durch den einige spärliche Sonnenstrahlen drangen. Säcke mit Getreide und Hülsenfrüchten, Fässer mit eingelegten Früchten, abgehangene Schinken, Honig, Öl, Wein, kostbares Salz und etliche andere haltbare Nahrungsmittel lagerten hier in den Regalen hinter den Holzgittern. Die Schätze von La Bonnée – mehrere Hundert Männer würden damit im Ernstfall für einige Wochen versorgt werden können.
Madame Maineville sah in dem halbdunklen Licht, dass die Verbindungstüren zwischen den Räumen offen standen. Ein ungutes Gefühl ergriff sie. Es passte nicht zu der Magd, so nachlässig zu sein. Sie beschleunigte ihre Schritte und erkannte in einem der hinteren Räume, in denen der Wein lagerte, die Umrisse von Catherines Gestalt.
»Was machst du denn hier? Du solltest doch nur etwas Mehl holen!«, fuhr sie die junge Frau an.
Catherine hatte sich zu ihr gedreht. Selbst in dem schwachen Licht konnte die Haushälterin erkennen, dass etwas nicht stimmte. In den Augen der Magd lag panische Angst, und sie brachte keinen Ton hervor.
Im selben Augenblick begriff Madame Maineville, dass sie nicht allein war – und sie bemerkte die drei Männer. Sie standen nur einige Schritte entfernt von Catherine, halb verborgen hinter den Regalen, und waren bewaffnet. Einer von ihnen hatte eine Pistole auf die Magd gerichtet, die er nun mit einem kalten Lächeln nach unten sinken ließ.
»Es erleichtert unsere Angelegenheit, dass Ihr den Weg zu uns gefunden habt!«, sagte er mit tiefer Stimme. »Eure Magd hat zwar heldenhaft versucht, uns davon zu überzeugen, dass Ihr sie bestimmt nicht suchen würdet, aber bei diesen beeindruckenden Vorräten gibt man die Schlüssel nicht gerne allzu lange aus der Hand, nicht wahr?«
Madame Maineville blickte ihn erschrocken an, während sie fieberhaft überlegte, wer die Männer waren. Anhänger der Guise oder irgendeiner dieser furchtbaren katholischen Ligen konnten es nicht sein – sie würden es nicht wagen, in ein Anwesen des Prinzen de Condé einzudringen. Nicht so lange der Krieg nicht wirklich ausgebrochen war. Doch um einen gewöhnlichen Überfall konnte es sich auch nicht handeln – dafür waren die Männer eindeutig zu gut gekleidet. Sie bemühte sich, ihre Angst nicht zu zeigen, als sie den
Weitere Kostenlose Bücher