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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Mannes aus, der es gewohnt war zu befehlen. Sie musste unwillkürlich an die vielen furchterregenden Geschichten denken, die über ihn erzählt wurden. Solche, wie die über die Belagerung Boulognes. Als die Engländer damals alle französischen Gefangenen töteten und ihre Köpfe zur Abschreckung auf Lanzen spießen ließen, habe Coligny keinerlei Regung oder Mitleid gezeigt, sondern nur mit kalter Miene befohlen, es ihnen mit Gleichem zu vergelten. Hart und unerbittlich habe er diesen Be fehl an den englischen Gefangenen durchgeführt, bis es schließlich die Engländer waren, die inständig baten, zu den alten Gepflogenheiten und Statuten zurückkommen zu dürfen.
    Madeleine betrachtete das Gesicht des Admirals. Ein nachdenklicher, strenger Ausdruck lag darauf, der durch den lebhaften Blick seiner blauen Augen jedoch durchbrochen wurde.
    Während Coligny zusammen mit seiner Gemahlin zum Kopfende des Tisches schritt, richtete er immer wieder an den einen oder anderen im Saal das Wort. Seine ruhigen Gesten, die Art, wie er sprach und die Menschen ansah, ließen ihn wie jemanden wirken, der völlig mit sich im Reinen war und keinerlei Zweifel kannte, dachte sie überrascht. Sie bemerkte, dass sich die Blicke der Anwesenden wie magisch auf ihn richteten und jede kleinste Bewegung von ihm zu verfolgen schienen. Sie bewunderten ihn und schauten zu ihm auf. Als würde ein König seinem Volk begegnen, schoss es Madeleine durch den Kopf.
    Coligny war indessen mit seiner Frau vor seinem Platz stehen geblieben und wandte sich zu einem schwarz gekleideten Mann an seiner Seite, bei dem es sich um eine Art Hausgeistlichen handeln musste. Dieser drehte sich zu den Menschen im Saal und begann einen Ton anzustimmen. Nur wenige Augenblicke später fielen nicht nur Coligny und seine Gemahlin, sondern der gesamte Saal in ein Lied ein. Ein heller, tragender Gesang erfüllte den Raum. Madeleine überlief ein Schauer. Sie wusste, dass der Psalmgesang ein wichtiger Bestandteil des protestantischen Kults war, und die Melodie ließ sie gegen ihren Willen nicht unberührt. Anders als in der katholischen Messe, in der von den Mönchen oder Priestern allein in lateinischer Sprache gesungen wurde, waren die Verse in französischer Sprache verfasst. Es war einer der großen Unterschiede zum Katholizismus, dass die Protestanten die unmittelbare Verbindung des Gläubigen zu Gott suchten. Kein Priester, keine kirchliche Hierarchie und auch keine Sprache durfte dem im Weg stehen. Deshalb lasen sie die Heilige Schrift – in der allein sich Gott ihnen offenbarte – auch auf Fran zösisch und lobpreisten den Allmächtigen in den Psalmen in ihrer Muttersprache.
    Madeleine lauschte auf den Text, in dem Gott für seine Gaben und seine Gnade gedankt wurde. Und doch war es Sünde! Sie versuchte, sich gegen die Wirkung des Lieds zu wehren, und senkte den Kopf, damit nicht allzu deutlich auffiel, dass sie nicht mitmachte.
    Erleichtert atmete sie auf, als der Gesang endlich endete. Der schwarz gekleidete Mann sprach ein Gebet und einen Segen aus, dann nahm die Gesellschaft um die lange Tafel herum Platz, während sich das Gesinde und die übrigen Leute wieder zu zerstreuen begannen. Madeleine wandte sich ebenfalls ab, als die Stimme des Admirals sie zurückhielt. »Wollt Ihr uns nicht die Freude machen, mit uns zu speisen, Mademoiselle?« Er hatte sich erneut vom Tisch erhoben, und sie nahm wahr, wie die Gespräche mit einem Mal verstummten und sie alle an der großen Tafel anblickten. Es waren hauptsächlich Edelleute, die dort saßen. Auch Vardes und Ronsard befanden sich unter ihnen. Sie alle waren elegant gekleidet und von Stand. Im Gegensatz zu ihr. Sie gehörte dort nicht hin. Am liebsten hätte sie den Kopf geschüttelt und wäre geflohen, doch Charlotte de Laval, die ihre Befangenheit zu bemerken schien, bedeutete ihr freundlich, zu ihnen zu kommen. Sie wies auf den leeren Platz neben sich, und eh es sich Madeleine versah, saß sie neben der Hausherrin am Tisch.
    Coligny neigte den Kopf. »Es freut mich, Euch hier begrüßen zu dürfen, Mademoiselle!« Einen Augenblick schien es, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte er sich wieder zu dem Tischnachbarn zu seiner Linken und setzte seine Unterhaltung fort. Madeleine spürte, wie einige der Männer sie neugierig musterten, doch schon bald war am Tisch wieder ein lebhaftes Stimmengewirr zu hören.
    Diener trugen große silberne Platten mit Speisen auf – Wild, Pasteten, gebackenen Schinken

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