Das Maedchen mit den Schmetterlingen
nicht wehtun. So hielt sie sich möglichst weit entfernt von Ben im Flur auf, gut versteckt, falls der Mann zurückkam, dem sie eine Geschichte erzählten sollte. Dort wartete sie auf Kate.
Kate sagte, dass Seán Alkohol getrunken hatte und hingefallen war und sich verletzt hatte, und Tess hatte keine Zeit mehr, ihr von dem Mann zu erzählen, der ans Fenster geklopft und gerufen hatte. Sie roch den Alkohol, als Séan an ihr vorbeiging, und wunderte sich, dass er wieder getrunken hatte, wenn er doch daran sterben konnte. Sie schlug die Hände vors Gesicht, als sie sich ihn als Skelett vorstellte. Sie hatte Angst vor dem Sterben und schauderte, wenn sie daran dachte, dass sie selber ein Skelett werden würde. Als Seán verschwunden war, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett, als ihr einfiel, dass sie die Überreste ihrer Buntstifte aus den Händen des schlafenden Ben retten musste. Außerdem wollte sie Kate vor dem unheimlichen Mann warnen, für den Fall, dass er noch einmal auftauchte.
Dermot und Kate unterhielten sich leise in der Küche, Tess lauschte an der Tür. Vielleicht ging es um ihr Praktikum. Als sie hineinspähte, sah sie zu ihrer grenzenlosen Überraschung, dass Dermot Kate auf die Lippen küsste, genau wie Noel Moore damals, als Tess noch ein kleines Mädchen war. Kate drehte sich um und lächelte und winkte sie herein. Tess überlegte, ob sie sich entschuldigen musste, weil sie die beiden beim Küssen beobachtet hatte, schließlich war es ja etwas Persönliches,
oder ob die beiden sich bei ihr entschuldigen mussten. Sie kam zu keinem Schluss und schwieg.
»Also dann, gute Nacht«, murmelte Dermot verlegen. »Ich muss wieder an die Arbeit. Aber ruf mich auf jeden Fall an, falls Seán aufwacht und aggressiv wird.« Er ließ die beiden nur ungern allein, aber er musste seine Tante wieder ablösen, die ganz alleine im Pub war.
Tess nahm ihren Skizzenblock und die Buntstifte an sich, an denen keine Spucke klebte, und Kate erkundigte sich, was mit Bens Kopf passiert sei. Sie glaubte ihr nicht, als sie sagte, dass ein Mann am Fenster gestanden und ihn erschreckt hatte. Ärgerlich schüttelte Kate den Kopf, half unter missbilligendem Zungeschnalzen Ben vom Fußboden auf und brachte ihn in sein Zimmer.
Tess folgte ihr und stellte erleichtert fest, dass Kate Seáns Zimmertür abschloss, damit er in dieser Nacht nicht wieder weglaufen konnte.
Kapitel 40
1981
S am Moran döste in der wöchentlich stattfindenden Redaktionssitzung seiner Zeitung vor sich hin und fuhr erschrocken auf, als Talbot sich nach dem aktuellen Stand seines Artikels über den Fall Byrne erkundigte. Talbot hörte sich an, wie er das Auf und Ab seiner Recherchen schilderte, die ihm bis zum heutigen Tag nichts anderes eingebracht hatten als eine handfeste Drohung. Das behielt er allerdings für sich, aus Angst, dass Talbot ihn sonst zurückpfiff. Als Sam fertig war, sah er Talbot nicken und wartete ab.
»Na schön. Scheint ja nichts dabei herauszukommen, also lassen Sie in Zukunft die Finger davon«, beschied ihn Talbot ungerührt. »Den Versuch war es sicherlich wert, aber es war auch ziemlich kostspielig, also vergessen Sie’s, Moran. Ich möchte, dass Sie mit Kenny zusammenarbeiten, ihn in die Grundlagen unseres Berufes einführen.«
Sam warf einen Blick auf den neuen Volontär mit den Sommersprossen und verzog das Gesicht - der war ja wahrscheinlich noch nicht mal alt genug, um sich ein Glas Bier zu bestellen.
»Könnte ich vielleicht noch mal zwei Wochen bekommen, nur zwei Wochen? Ich weiß genau, dass ich da auf etwas gestoßen bin«, hakte er nach. Seine Verzweiflung war nicht zu überhören.
»Tut mir leid, aber jetzt sind Sie schon seit Februar hinter dieser Geschichte her. Ich weiß, dass Sie Ihre reguläre Arbeit anständig erledigen, aber das Ganze kostet auch eine Stange Geld. Lassen Sie’s gut sein. Moran.«
Sam seufzte und sank auf seinem Stuhl zusammen. Die restliche Sitzung rauschte an ihm vorbei, und er sah zu, wie sein neuer Schatten Kenny sich Notizen machte und eine Begeisterung an den Tag legte, die ihm im Augenblick vollkommen abging.
Kate knallte einen Teller mit Toast vor ihrem Bruder auf den Küchentisch, der den Kopf in die Hände gestützt hatte und auf sein Frühstück hinabstarrte wie ein gescholtenes Kind. Dann blickte er auf und sah seine Schwester mit zornrotem Gesicht an der Spüle stehen. Er bemerkte ihre geschwollenen Halsschlagadern und überlegte hin und her, ob jetzt der
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