Das Maedchen mit den Schmetterlingen
ihn.
Seán lag auf der Seite im hohen Gras. Er schluchzte, Speichel und Tränen liefen ihm über den Hals in das zerknitterte graue Hemd, in dem er auch geschlafen hatte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Erschrocken entdeckte sie neben seinem Kopf eine Lache mit blutigem Erbrochenem. Sie wollte ihn hochheben, aber trotz seines erheblichen Gewichtsverlustes konnte sie ihn nicht von der Stelle bewegen. Sie wartete eine Weile, während Seáns Schluchzen langsam in ein leises Wimmern überging.
Schließlich flüsterte sie resigniert: »Wie ist es nur so weit gekommen, Seán? Was ist bloß passiert mit dir? Sieh doch, was aus dir geworden ist. Jetzt liegst du hier, auf dieser Wiese - ein hoffnungsloser Fall - und alles nur wegen einem bisschen Land!«
Kate merkte, dass diese Worte eher ihr selbst als ihrem Bruder galten, der völlig verzweifelt und gar nicht in der Lage war, ihr zuzuhören, geschweige denn zu antworten. Der Himmel war dunkel und grau, und es fing an zu regnen, bis die
beiden bis auf die Haut durchnässt waren. Kate konnte das sanfte Plätschern des Sees in der Ferne hören. Eigentlich kam sie nur selten hierher. Es war zu dicht an der Stelle, wo ihr Vater umgekommen war, und irgendwie unheimlich. Das Jahr über hatte sie hier zwar immer wieder Vieh stehen, aber sie wusste, dass sogar Seán um diese Gegend einen Bogen machte. Warum hatte er sich in seinem Rausch ausgerechnet diesen Platz ausgesucht? Weil er dachte, dass sie ihn hier nicht suchen würde?
Nach einer Weile gelang es ihr doch noch, Séan auf die Beine zu helfen, worauf er sich ein weiteres Mal übergab. Er krümmte sich vor Schmerzen, und Kate stützte ihn, als sie langsam zum Haus zurückgingen. Der Weg führte hauptsächlich bergauf, und sie schwitzte unter seinem Gewicht, während er neben ihr herhinkte, ausgelaugt und erschöpft. Bekümmert konnte sie jede Rippe unter seinem Hemd spüren. Wann hatte dieses Elend endlich ein Ende? Daran, dass er wieder gesund wurde, glaubte sie jedenfalls nicht mehr.
Da Glenmire ohnehin auf ihrem Weg lag, hatte Deirdre O’Connell angeboten, Tess dort abzuholen und nach Hause zu bringen. Sie wusste, dass Kate ihren Bruder nicht alleine lassen konnte. Als Deirdre und Tess auf dem Hof eintrafen, hatte Kate Seán bereits ins Bett gebracht, wo er friedlich eingeschlafen war.
Deirdre hörte aufmerksam zu, als Kate ihr von Seáns Trinkerei seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus berichtete.
»Ich halte es nicht mehr länger aus mit ihm, Deirdre. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende. Ich habe wirklich schon genug anderes zu verkraften. Wenn er das noch einmal macht … wenn er noch einen einzigen Schluck anrührt … dann … dann muss er hier weg.«
Deirdre pflichtete ihr bei, dass sie mit Seán nicht allein fertig
werden konnte und er ins Krankenhaus musste. Sie rief Dr. Doyle an, informierte ihn über die Situation und bat ihn, Seán so schnell wie möglich wieder in die Klinik einzuweisen.
Deirdres Besuch hatte Kate gutgetan, und sie machte sich daran, das Essen für Tess und Ben vorzubereiten. Später kam Dermot vorbei, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Während Kate ein Tablett mit Essen in Seáns Zimmer brachte, hielt er vor der Tür Wache, für den Fall, dass Séan aggressiv wurde, immerhin hatte er seit dem frühen Morgen keinen Alkohol mehr getrunken. Am Nachmittag hatte Dermot bei Dr. Doyle ein Schlafmittel für Seán abgeholt, und mit dem letzten Schluck Tee verabreichte Kate ihm eine Tablette, in der Hoffnung auf eine friedliche und ruhige Nacht. Tess war bereits in ihrem Zimmer, der erste Tag ihres Praktikums war gut gelaufen, und sie übertrug aus dem Gedächtnis ein paar Gemälde aus der Galerie auf ihren Zeichenblock. Sie überlegte, ob sie die Zeichnungen Mr. Gill vorlegen sollte, der was von Bildern verstand und ihr heute sehr viel netter vorgekommen war als beim letzten Mal.
Als Kate nach Ben gesehen und festgestellt hatte, dass er tief und fest schlief, setzte sie sich mit Dermot ins Wohnzimmer. Seit jener ersten Nacht hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen, und sie sehnte sich wieder nach dieser Nähe. Als sie sicher waren, dass auch Tess endlich eingeschlafen war, liebten sie sich, entschlossener und leidenschaftlicher als beim ersten Mal, im Wohnzimmer, das einst das Schlafzimmer ihrer Mutter gewesen war. Eng umschlungen blieben sie noch für eine Weile liegen. Kate hatte nicht das geringste schlechte Gewissen ihrem Bruder gegenüber, der schwer krank und
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