Das Maedchen mit den Schmetterlingen
lassen und die nun gekommen waren, um ihr Beileid auszusprechen.
Kate versuchte, ihr Schluchzen wenigstens so lange zu unterdrücken, bis sie Tess eine Antwort gegeben hatte, aber sie schaffte es nicht.
»Schon gut, Kate, keine Angst. Jetzt ist alles in Ordnung. Dermot sorgt für uns.«
Zu Tess’ Überraschung drehte sich Kate zur Wand, und sie konnte ihre Schwester in der Dunkelheit weinen hören.
Kate konnte sich einfach nicht erklären, wie Seán an die Schlüssel gekommen war. Sie spielte die Abfolge der einzelnen Ereignisse im Geist immer wieder durch und war sich sicher, dass sie sie nicht im Lieferwagen hatte liegen lassen. Sie hatte sie in der Hand gehabt, als sie sich auf die Suche nach Tess gemacht hatte, ganz bestimmt. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Sie hoffte nur, dass Bens Tod nicht ihre Schuld war.
Um vier Uhr früh klingelte das Telefon im Flur. Kate und Tess lauschten gespannt, während Dermot leise mit dem unbekannten Anrufer sprach. Als er schließlich an ihre Zimmertür klopfte, um sie aufzuwecken, da saßen beide fertig angezogen Hand in Hand auf einem Bett. Unsicher blieb Dermot an der Tür stehen, Kates Gesichtsausdruck verriet ihm, dass sie bereits wusste, was er sagen wollte.
»Wir müssen ins Krankenhaus … sie haben den Priester gerufen.« Dermot rechnete mit Kates Widerstand, doch dann sah er, wie sie Tess’ behutsamem Drängen nachgab.
Im Krankenhaus wurden sie vom Krankenhausseelsorger in Empfang genommen. Er brachte sie in ein kleines Zimmer ein wenig abseits der Intensivstation, in das man Seáns Bett vor etwas mehr als einer Stunde geschoben hatte. Tess starrte auf den Atemschlauch, der von seinem Mund zu einer Maschine führte, die sich wie ein Akkordeon auf und ab bewegte.
Ständig piepste ein lautes Gerät. An Seáns Bettkante hing ein durchsichtiger Beutel, der sich langsam mit Blut füllte. Tess wandte sich angewidert ab. Sie nahmen auf den Stühlen Platz, die bereits um das Bett herum bereitgestellt waren. Kate wählte den, der am weitesten entfernt war und von dem aus man Seán hinter den vielen lebenserhaltenden Geräten kaum sehen konnte. Sie sah ihren Bruder nicht an und hielt die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf wie zum Gebet gesenkt. Der Geistliche legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter, trat vor das Bett und begann, ihrem sterbenden Bruder die Sakramente zu erteilen.
Tess hatte die Monotonie von Gebeten schon immer beruhigend gefunden und blickte auf. Sie spürte, dass sie sich jetzt von ihrer besten Seite zeigen musste und vor allem nicht summen durfte, wie sie es als Kind während der Messe immer getan hatte. Stattdessen betrachtete sie Seán, der regungslos im Bett lag. Um seinem Hals lag ein fester runder Gegenstand, der seinen Kopf ganz klein aussehen ließ. Quer über die Stirn, wie aufgemalt, zog sich gleichmäßig ein großer Bluterguss. Seine Augen waren geschlossen und in seiner Nase steckte ein weißer Schlauch, der im Gesicht festgeklebt war. Er führte zu einem Beutel mit einer hellen Flüssigkeit an einem Haken über seinem Bett. Über seinen Beinen, die unter dicken Verbänden verschwunden waren, wölbte sich ein Drahtkäfig. Seine Bettdecke reichte nicht bis ans Fußende des Bettes, sondern endete, sauber aufgeschlagen, ein Stück oberhalb seiner Füße, an denen sie weder Prellungen noch Verletzungen entdecken konnte. Tess war irritiert. Ob Seán wohl kalte Füße hatte? Wenn es der Fall war, stellte sie besorgt fest, konnte er es niemandem sagen, so wie Ben nie genau sagen konnte, was ihm fehlte. Sie stand auf und näherte sich dem Bett ihres Bruders, der sie seit ihrer Rückkehr nach Hause so schlecht
behandelt hatte, und nun würde sie niemals mehr den Grund dafür erfahren. Hätte er ihr gesagt, was sie falsch gemacht hatte, hätte sie sich noch mehr bemühen können, hätte sich entschuldigen können, aber dafür war es jetzt zu spät. Aber auch für Seán war es zu spät. Auch er konnte sich jetzt nicht mehr bei ihr entschuldigen. Selbst wenn er noch einmal aufgewacht wäre, hätte er mit diesem Schlauch im Mund unmöglich sprechen können. Tess beugte sich dicht an sein Ohr und bedeckte ihre freie Gesichtshälfte mit der Hand, damit sie den Blutbeutel auf dem großen Metallständer neben dem Bett nicht sehen musste.
»Keine Sorge, Seán. Ich verzeihe dir, dass du mich angeschrien hast und dass du das ganze Geld vertrunken hast und dass du Kate geschlagen hast und …«
»Tess!«, ermahnte sie Dermot.
Der
Weitere Kostenlose Bücher