Das Maedchen mit den Schmetterlingen
zusammen.
»Ich bin bei dir«, flüsterte er.
Kate bestätigte mit einem Nicken, dass es sich um ihren Bruder handelte, ihren heißgeliebten Bruder, den sie von Geburt an großgezogen hatte und der für sie wie ihr eigenes Kind gewesen war. Ein niedlicher, unschuldiger Bruder, der nicht darum gebeten hatte, in diese Welt, in diese Familie geboren zu werden. Und jetzt war er tot, für immer gegangen. Sie wusste nicht, was sie auf dieser Welt noch verloren hatte, jetzt, wo sie sich nicht mehr um Ben kümmern konnte. Sie trat einen Schritt vor, berührte ihn und erschrak über seine eisig kalte Haut. Was mochte dieses Kind in den letzten Minuten seines Lebens durchgemacht haben? Hatte er nach ihr gerufen? Hatte er sich gewundert, wo sie war? Der Gedanke war einfach unerträglich. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn noch einmal. So friedlich hatte sie ihn noch nie gesehen, denn schon als kleines Baby hatte Ben im Schlaf ständig gezuckt und ausgeschlagen. Sie beugte sich hinunter und gab ihm einen Kuss. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, wollte ihn ein letztes Mal an sich drücken. Ben hatte Umarmungen immer gehasst, und dieses eine Mal würde er sich nicht wehren.
Sie trat einen Schritt vor und schob ihm die Hand unter den Nacken, um ihn von der kalten, weißen Bahre zu heben und in den Arm zu nehmen. Aber als hätte er ihre Gedanken gelesen, trat der Mann mit dem länglichen Gesicht ebenfalls vor, zog behutsam, aber entschieden ihre Hand zurück und warf Dermot einen Blick zu. Er wusste, wie der Mann auch, dass Kate die schlimmsten Verletzungen des toten Jungen noch gar nicht gesehen hatte. Dermot legte den Arm um Kates Schulter, und sie verharrten eine Weile, während der Mann sich zurückzog, um das trauernde Paar nicht zu stören.
Im Stockwerk darüber lag Seán auf der Intensivstation. Er war immer noch bewusstlos. Dermot drängte Kate, zu ihm hinaufzugehen, aus Sorge, sie könnte es später bereuen, doch sie weigerte sich, und so verließen sie die Leichenhalle und machten sich auf den Weg nach Hause, wo Tess auf sie wartete.
In Árd Glen saß Tess alleine in ihrem Zimmer, während Deirdre für sie in der Küche ein paar Sandwiches zubereitete. Sie holte ihre Liste aus einer Schublade und brachte sie auf den neusten Stand, indem sie einen langen, schwarzen Strich durch Bens Namen zog. Sie hatte eigentlich vorgehabt, sich bei Ben zu entschuldigen, weil sie ihn, als er noch klein war, gezwickt hatte, obwohl er nicht einmal sprechen konnte. Als Entschuldigung hatte sie ihm das Sprechen beibringen wollen, wie den kleinen Kinder in der Klinikschule, aber dafür war es jetzt zu spät. Ben war tot, und Tess würde sich niemals entschuldigen können.
Dermot Lynch lag lang ausgestreckt auf dem Sofa der Byrnes. Er war hellwach. Er wollte Kate nicht alleine lassen und war geblieben, obwohl er wusste, dass man sich im Dorf das
Maul zerreißen würde. Am liebsten hätte er sich neben Kate gelegt, um sie festzuhalten und zu trösten, aber irgendwie war ihm das angesichts der Umstände nicht richtig vorgekommen. Kate hatte ihm Seáns Bett angeboten, aber er hatte abgelehnt und gesagt, dass er wahrscheinlich sowieso nicht schlafen konnte. Am anderen Ende des Flurs lagen Tess und Kate in ihren Betten. Auch sie waren hellwach und starrten die Schatten an, die die Scheinwerfer der Autos auf der nahe gelegenen Landstraße an die Zimmerdecke warfen.
»Kate?«
Kate reagierte nicht.
Sie lag auf dem Rücken und dachte an Ben. Die Sehnsucht nach ihm war so stark, dass sie geradezu körperlich wehtat, während sie sich immer und immer wieder die letzten Augenblicke im Leben ihres Bruders ausmalte, ihren Geist marterte und sie nicht schlafen ließ. Schließlich antwortete sie, in der Hoffnung, dass ihre gequälte Seele durch die Fragen ihrer Schwester einen Augenblick Ruhe fand.
»Ja?«
»Wenn du ins Wohnzimmer gehen und Dermot umarmen möchtest, dann kann ich auch alleine hierbleiben. Das macht mir nichts aus.«
Kate schluckte und brach in Tränen aus. Das überraschende Verständnis ihrer Schwester überwältigte sie. Seit dem Unglück hatte sie sich auf die Sorge für Tess konzentriert, hatte verzweifelt versucht, an irgendetwas anderes als an Bens Tod zu denken, aber ihre Schwester nahm die Nachricht nach wie vor gelassen zur Kenntnis und war in den Stunden der Trauer nicht von Kates Seite gewichen. Sie hatte Tee für die Nachbarinnen gekocht, die sich schon seit vielen Jahren nicht mehr hatten blicken
Weitere Kostenlose Bücher