Das Maedchen mit den Schmetterlingen
ließ ihn mit Tess alleine. Beide wussten nicht, wie sie ihr helfen sollten. Tess befürchtete, Kate könnte die gleiche Krankheit haben wie ihre Mutter, die sich auch immer übergeben hatte. Dermot, der damals noch nicht in Árd Glen gewesen war, war beunruhigt und nahm sich vor, seinen Onkel zu fragen, sobald er wieder im Pub war. Er überlegte auch, ob er Kates Onkel ansprechen sollte, den Bruder ihrer Mutter, verwarf den Gedanken aber wieder, denn Kate wäre mit Sicherheit nicht einverstanden gewesen. Jimmy Kelly war seit dem tödlichen Unfall schon zweimal auf dem Hof erschienen - das erste Mal überhaupt seit der Aufbahrung seiner Schwester Maura -, doch Kate hatte sich geweigert, mit ihm zu sprechen.
Dermot brachte Lebensmittel mit, verstaute sie in den Schränken, kochte gelegentlich das Abendessen und versuchte Kate zu ein paar wenigen Bissen zu bewegen. Er kümmerte sich auch um das Vieh. Der Bestand war in den letzten Jahren rapide zurückgegangen, und Dermot fragte sich, wie die beiden Frauen jetzt finanziell über die Runden kommen sollten. Alleine konnten sie den Hof nicht halten, und obwohl er seit Wochen keinen Lohn verlangt hatte, konnten sie sich zusätzliche Hilfe nicht leisten.
Mittlerweile redete Kate überhaupt nicht mehr mit ihm. Sein Onkel wusste auch nicht, was Tess mit ihrer Bemerkung über die Übelkeit ihrer Mutter gemeint haben könnte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie irgendeine seltene Geisteskrankheit und war vor ihrem Tod sehr verwirrt gewesen, wie eine alte Frau.
Kate hatte sich angewöhnt, in Bens Bett zu schlafen und hatte Tess das gemeinsame Zimmer überlassen. Ihre Wangen waren eingefallen, und sie sprach fast überhaupt nicht mehr, auch nicht mit Tess, die sich zunehmend Sorgen um sie machte.
Deirdre O’Connell saß an Kates Bett und versuchte, die verwahrloste Frau ein bisschen herzurichten. Sie hatte den Doktor benachrichtigt, damit er Kate, die immer schwächer wurde, untersuchte. Seit Wochen hatte sie die Haare nicht gewaschen, und ihre Haut war rissig und spröde geworden. Deirdre ging in die Küche, um Wasser für ein heißes Bad für Kate aufzusetzen.
Tess saß alleine auf dem Stuhl neben dem Ofen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und vor ihr lag ein neuer Zeichenblock, ein Geschenk von Dermot.
»Wie geht es dir, Tess?«
»Gut«, erwiderte sie tonlos.
»Du malst ja immer noch. Darf ich es sehen?«
Tess drehte das große Blatt in ihre Richtung, und die zu Tode erschrockene Deirdre war sprachlos. Tess hatte einen großen See gezeichnet, der fast die gesamte Seite in Anspruch nahm. Über die Wasserfläche spannte sich ein gewaltiges Spinnennetz, in dessen Zentrum ein kleines Insekt mit zwei riesigen Köpfen, roten Haaren und gefletschten Zähnen gefangen war. Einer der beiden fast identischen Köpfe ließ einen abgebrochenen Schneidezahn erkennen. Im Hintergrund sah man Tess am Seeufer stehen. Das Wasser reichte ihr bis über die Füße, während sie nach oben schaute. Ihr Gesicht, das einen merkwürdigen, fast ängstlichen Ausdruck zeigte, war verweint. Ben war als schlafendes Baby dargestellt, mit Verletzungen, die in etwa denen entsprachen, die er bei dem
Unfall erlitten hatte. Deirdre schaute etwas genauer hin und erkannte, dass sein Gesicht grau war. Tess hatte ihn als Leiche gemalt. Am Ufer des Sees, nahe bei Tess’ Füßen, konnte man einen menschlichen Körper liegen sehen, den Kopf unter Wasser, die schwarzen Haare schwammmen auf der Wasseroberfläche. In der äußersten Ecke des Bildes war Kate zu sehen. Sie saß auf einem grasbewachsenen Hügel und trug ein weißes Kleid, das zerrissen war, sodass ihre Unterwäsche zu sehen war. Die Hände hatte sie vors Gesicht geschlagen, aber man konnte erkennen, dass Tränen darunter hervorquollen. Deirdre O’Connell musterte Tess besorgt. Hatte sie die Auswirkungen des Unfalls auf die junge Frau womöglich unterschätzt?
»Ähm … ich habe meine Brille nicht auf, Tess. Was ist das denn?«
»Der See, Deirdre«, erklärte Tess erstaunt.
Deirdre überlegte, ob sie Tess fragen sollte, was das zweiköpfige Insekt zu bedeuten hatte, aber für so etwas war sie nicht ausgebildet, und sie beschloss, Dr. Cosgrove anzurufen und ihn um seine Meinung zu bitten. Kate war offensichtlich nicht in der Lage, für Tess zu sorgen, und es konnte sein, dass man sie unter Umständen für eine Weile irgendwo anders unterbringen musste.
Kates Gewichtsverlust stimmte den Doktor genauso bedenklich wie Deirdre. Kate
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