Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Schweigen. Die Kinder, mit denen
er es hier zu tun hatte, hatten meist eher zu viel zu sagen. Er musterte das Mädchen, deren Miene nicht das Geringste verriet. Weder schien sie die Veränderung zu veränstigen, noch der Spaziergang im Freien zu erfreuen. Ihre Schwester hatte ihm geschrieben und ihn über ihre Vorlieben und Abneigungen informiert, aber jetzt befand sich Tess in einer vollkommen unbekannten Umgebung. Er hatte Kate Byrne gebeten, ihre Schwester zu besuchen, ihren Bruder auch, doch bis jetzt hatten sie auf seine Einladung nicht reagiert. Vielleicht war es noch zu früh, der Tod des Vaters und die Pflege des kleinen Bruders zu belastend. Außerdem nahm er an, dass sie Tess die Tat immer noch verübelten. Dr. Cosgrove hatte keine Ahnung, wie falsch er damit lag.
Etwas später hielt Tess sich mit zwei jungen Pflegerinnen im Stationszimmer auf, zur Strafe, weil sie während des Essens ein anderes Kind gebissen hatte. Sie beobachtete die Schwestern, die ihre Berichte schrieben, ihr gelegentlich aus den Augenwinkeln einen Blick zuwarfen und sich ratlos anschauten. Tess wusste, dass die Pflegerinnen ein bisschen Angst vor ihr hatten, verstand aber nicht, warum. Sie hätte das Kind nicht gebissen, wenn es nicht ihre Zeichnung zerrissen hätte, und jetzt wurde sie doppelt bestraft, weil sie nicht sagen wollte, dass es ihr leidtat.
»Du musst dich entschuldigen, Tess, dann kannst du wieder auf dein Zimmer gehen.«
Tess kritzelte etwas auf einen Zettel: Nein .
»Komm schon, Tess, du willst doch bestimmt nicht den ganzen Abend hier bei uns hocken, oder?«
Noch ein Zettel: Nein .
»Dann entschuldige dich bei Colm, sei ein braves Mädchen.«
Zettel: Nein .
»Dann kannst du auch den Film nicht sehen, Tess.«
Zettel: Mir egal .
Die beiden Pflegerinnen blickten sich seufzend an und überlegten sich eine neue Taktik. Sie hatten keine Lust während der ganzen Schicht den starren Blicken dieses Mädchens ausgesetzt sein.
»Tess, weißt du, was eine Entschuldigung ist?«
Kritzel: Ja .
»Dann erklär’s mir mal.«
Kritzel: Das heißt, dass mir etwas leidtut, aber ich hab nichts gemacht zum Leidtun.
Die Schwestern kicherten leise. Das Kind war wirklich ungewöhnlich, aber gelegentlich auch recht unterhaltsam.
»Findest du, dass Colm sich bei dir entschuldigen müsste, Tess?«
Zettel: Ja .
»Und wie soll er sich bei dir entschuldigen?«
Kritzel: Mein Bild wieder zusammenkleben .
»Das geht nicht, Tess, das weißt du. Das Blatt ist in tausend Fetzen gerissen. Manchmal kann man eben einfach nur sagen: Tut mir leid.«
Tut mir leid ist keine richtige Entschuldigung, schrieb Tess hastig. Man muss etwas gutmachen, damit der andere sich besser fühlt. Man muss es reparieren.
Die jüngere der beiden Pflegerinnen seufzte. Das Kind tat ihr wirklich leid, aber es war auch extrem stur und dickköpfig.
»Tess, manchmal macht man etwas, das man nicht wiedergutmachen kann. Verstehst du das?«
Zettel: Ja .
»Und, entschuldigst du dich jetzt?«
Zettel: Nein .
Es war reine Zeitverschwendung, und die beiden wandten sich wieder ihren Berichten zu. Es würde ein sehr langer Abend werden.
Kapitel 9
1951
N ach einer endlos langen Woche voller Sehnsucht nach einem anderen Leben stand endlich der Samstag vor der Tür. Samstag, das war der Tag, für den Maura lebte, der Tag, an dem sie Éamonn wiedersah und ihren Traum leben konnte, den Traum, seine Frau und die Mutter seines Kindes zu sein. Doch dieses Wochenende sollte anders werden. Leise zog sie Seán für die Fahrt an, um ihren schlafenden Mann nicht zu wecken, der bis spät in die Nacht getrunken hatte. Michael war in letzter Zeit immer aggressiver geworden und verlor oft die Beherrschung, wenn das Kind weinte. Sie ging mittlerweile regelmäßig dazwischen und warf sich schützend vor den Kleinen, wenn ihr verkaterter Ehemann Seáns Geschrei nicht ertragen konnte. Maura war klar, dass sie diese Situation irgendwie beenden und Seán in Sicherheit bringen musste. Sie hatte in den letzten Wochen ihren ganzen Mut zusammengenommen und mit Éamonn darüber gesprochen, aber seine Begeisterung hatte sich in Grenzen gehalten. Er war jetzt im letzten Studienjahr und hatte gemeint, es wäre doch schade, alles, was er schon erreicht hatte, einfach hinzuwerfen und sich eine minderwertige Arbeit zu suchen. Das konnte Maura durchaus einsehen. Natürlich, was machten ein paar Jahre mehr schon aus?
Aber sie war schwanger, wie sich in dieser Woche herausgestellt hatte, mit
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