Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Wenn die Übeltäter Glück hatten, fing sie an, sich selbst zu verletzen und sich vor ihren Augen die Haut von den Lippen oder Fingern zu reißen. Aber manchmal fiel Tess auch über die anderen her, sogar über die Größeren, zerkratzte ihre Gesichter und riss sie an den Haaren, doch ihre Selbstverletzungen richteten meistens den größeren Schaden an. Irgendwann wurde sie dann in ein Einzelzimmer verlegt. Tess wusste, dass es die Strafe dafür war, weil sie anderen Mädchen wehgetan hatte, das hatte ihr die Krankenschwester erklärt, aber es war ihr gleichgültig. Kate hatte niemals ihre Sachen angerührt, Kate wusste, wie sehr sie das aufregte, aber hier wusste das niemand. Wenn Kate hier schon nicht bei ihr sein durfte, war sie lieber alleine.
Kate Byrne stand früh auf und setzte sich in die Küche. Nervös nippte sie an einer Tasse Tee und starrte hinaus in das ungemütliche Wetter. Mehrere Wochen waren vergangen, seitdem man Tess abgeholt hatte. Ein Arzt namens Cosgrove hatte ihnen geschrieben und sie und Seán gebeten, Tess eine Weile Zeit zur Eingewöhnung zu lassen und sie nicht gleich zu besuchen, worüber Kate durchaus dankbar war. Seit man Tess weggebracht hatte, hatte Kate in jeder freien Minute an sie denken müssen, und in ihren Träumen erschien ihr Tess und flehte sie an, sie wieder nach Hause zu holen. Der Anblick brach ihr das Herz, und sie beschloss, noch heute nach Dublin zu fahren und ihre Schwester zu besuchen, so schwer es ihr auch fiel. Seán weigerte sich mitzukommen. Er könne das nicht verkraften und wollte solange auf Ben aufpassen.
Es war Ende Juli und sehr warm, aber trotzdem goss es in Stömen, und nach dem drei Kilometer langen Fußmarsch bis
ins Dorf war sie bereits völlig durchnässt. Der erste Bus fuhr erst in einer Viertelstunde, das Dorf lag still und verlassen da. Kate suchte Schutz in einen Hauseingang, der Regen hatte ihre dicken, schwarzen Haare gekräuselt, und ihr Gesicht glänzte. Sie dachte mit Sorge an den bevorstehenden Tag und betete im Stillen, dass es Tess gut ging, dass sie in ihrem neuen Heim zufrieden war, aber sie wusste, dass es eine Illusion war, wusste, dass Tess sich an sie klammern würde. Stumme Tränen rollten über ihre Wangen, während der Regen unablässig vom Himmel strömte und sie froh war, dass außer ihr niemand wartete.
Als der Bus auftauchte fing ihr Herz an zu klopfen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Bis auf ein, zwei Leute aus den Nachbardörfern war der Bus leer, und sie setzte sich weit nach hinten, wo die Heizung sie wärmte. Sie war völlig durchnässt und fröstelte. Während der Bus über die schmalen Landstraßen in Richtung Dublin rumpelte und schaukelte, versuchte sie vergeblich, das Bild von Michael Byrne aus ihren Gedanken zu verscheuchen. Sie war nicht in der Leichenhalle gewesen - Seán hatte ihn identifiziert -, aber in Gedanken hatte sie sich ausgemalt, wie er blutend und übel zugerichtet am Seeufer lag. Sie fing an zu zittern. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Tess so etwas getan hatte … aber wenn doch, warum? Ihr wurde übel, Kopfschmerzen und eine bleierne Müdigkeit übermannten sie. Mit schmerzenden Schultern blickte sie hinaus in den neblig-grauen Himmel, während die ebenso graue Straße sich vor ihr durch die Landschaft schlängelte.
Als der Bus endlich in Dublin anhielt, waren die Kopfschmerzen zu einem Hämmern angeschwollen, und ihre Übelkeit war auch nicht besser geworden. Aber es regnete nicht mehr, und die Sonne versuchte verzweifelt, die schweren, grauen Wolken zu durchdringen. Sie lief die Abbey Street entlang
und bestellte sich in der O’Connell Street eine Tasse Tee, bevor sie den Weg zur Klinik einschlug. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, sich zu beruhigen und zu überlegen, wie sie reagieren sollte, falls Tess durchdrehte.
Als Kate schließlich vor dem Eingangstor der Klinik stand, hatte es wieder zu regnen begonnen. Sie musterte das viergeschossige Backsteingebäude, dessen Haupteingang mit vier großen, runden Säulen geschmückt wurde, dann ging sie die vier Steinstufen hinauf und blieb direkt hinter der schmalen Glastür stehen. Dunkle Holzbänke zogen sich zu beiden Seiten des lang gestreckten Eingangskorridors mit seinen großen, glänzenden, schwarz-weißen Fliesen entlang. Sie sahen aus, als wären sie nass, und Kate war sofort klar, dass Tess Angst hatte, sie zu betreten. Sie musste plötzlich würgen und wandte sich hastig dem Stationsanzeiger an der linken Wand zu. Ein
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