Das Maedchen mit den Schmetterlingen
zusammengelegt, aber ihr war bewusst, dass der Doktor sie ununterbrochen musterte.
»Hast du da auf dem Schreibtisch etwas Interessantes gesehen?«, wollte er wissen.
Keine Reaktion.
Dr. Cosgrove hatte sich so viel Literatur wie möglich über die Erkrankung dieses Kindes beschafft, aber nichts hatte sich bisher als besonders hilfreich erwiesen. Er wusste, dass diese Patienten zu Wutanfällen neigten, und sie hatte ja durchaus während der Wochen, die sie jetzt in der Klinik war, eine gewisse Aggressivität an den Tag gelegt, doch ihre Krankengeschichte wies keinerlei Anzeichen für eine ernsthafte psychiatrische Störung auf. Abgesehen von dem Verbrechen, das sie angeblich begangen hatte.
»Tess«, sagte er leise. »Wenn du nicht mit mir redest und mir erklärst, warum … warum du deinem Vater das angetan hast, was du getan hast, dann kann ich dir auch nicht dabei helfen, gesund zu werden und zu deiner Familie zurückzukehren.«
Tess starrte den Doktor an. Er benutzte viel zu viele Wörter, denen sie nicht folgen konnte, weil sie immer noch mit dem ersten Teil seines Satzes beschäftigt war. Was will er? Wie lautet die Frage? überlegte sie.
Martin Cosgrove seufzte. Jetzt saß dieses Kind seit drei Wochen fast jeden Tag in seinem Büro, und er hatte immer noch kein einziges Wort aus ihr herausbekommen. Er war müde und frustriert und hatte keine Ahnung, wie er einen Zugang zu ihr bekommen sollte. Er beugte sich vor, immer darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen. Er wusste, dass ihr das unangenehm war.
»Also gut, Tess, wir treffen eine Abmachung. Ich muss offen mit dir reden, weil ich weiß, dass du das besser verstehen kannst. Ich möchte dir helfen. Aber ich muss wissen, warum du deinen Vater umgebracht hast, sonst kann ich dir nicht helfen. Ich möchte nur wissen, warum du das getan hast, sonst nichts. Also, Tess, warum hast du deinen Vater umgebracht?«
Schweigen.
Dr. Cosgrove seufzte frustriert und ließ sich in den abgewetzten Lesersessel sinken, den er von seinem Vorgänger übernommen hatte.
»Du kannst jetzt gehen, Tess. Die Schwester bringt dich auf dein Zimmer.«
Auf dem Weg in ihr Zimmer gingen Tess nur fünf Worte durch den Kopf, die Dr. Cosgrove gesagt hatte.
» Du hast deinen Vater umgebracht. «
Als die Tür des großen Schlafsaals hinter ihr ins Schloss fiel, kroch sie unter ihr Bett, kauerte sich zusammen, die Arme fest um den Körper geschlungen und summte laut, um die Geräusche der anderen Kinder und ganz besonders Dr. Cosgroves Worte zu übertönen. Sie konnte nicht verstehen, warum Dr.
Cosgrove und die Polizei glaubten, sie habe ihrem Vater etwas angetan.
Als sie schließlich eingeschlafen war, träumte sie den Traum, den sie seit jenem Morgen am See schon öfter geträumt hatte. Sie sah sich selbst das Haus durch die Hintertür betreten. Seán und Kate sahen älter aus und saßen in der Küche. Außer dem Zischen des Wasserkochers war nichts zu hören. Weder Seán noch Kate blickten auf, als sie durch das Haus ging. Vom Baby war nichts zu sehen und nichts zu hören. Auf dem Bett ihrer Mutter lagen zwei große Särge. Sie wusste nicht, wer sich darin befand, und trat vorsichtig näher. Doch bevor sie einen Blick hineinwerfen konnte, wurde sie von einer Hand an der Schulter gepackt und herumgewirbelt. Sie stand einem Mann gegenüber, den sie schon einmal gesehen hatte, einem Mann, vor dem sie sich fürchtete. Damit endete der Traum. Tess schreckte jedes Mal hoch, verängstigt und weder willens noch in der Lage weiterzuschlafen. Sie wusste, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte, aber wo? Sie wusste, dass sie schreckliche Angst vor ihm hatte, aber warum?
Morgens zog Tess sich immer langsam und systematisch an, während die anderen Kinder sie bei ihrem Ritual beobachteten. Sie faltete jedes einzelne Kleidungsstück, die alle in der immer gleichen Ordnung abgelegt waren, sorgfältig auseinander. Die Strickweste lag immer ganz unten, da sie zuletzt übergestreift wurde, Unterwäsche und Strümpfe lagen immer oben auf, dann kam die Bluse, dann der Rock oder im Sommer das Kleid. Die Schuhe standen säuberlich unter dem Bett, mit den Spitzen zur Wand. Manchmal, wenn die älteren Kinder sicher waren, dass sie eingeschlafen war, kletterten sie aus dem Bett und verdrehten Tess’ Schuhe, sodass die Fersen nach hinten zeigten, oder drehten ihren Kleiderstapel um, sodass die Strickweste zuoberst lag. Wenn Tess dann nach dem Aufwachen
die Unordnung bemerkte, wurde sie wütend.
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