Das Maedchen mit den Schmetterlingen
hatten, da war sie unbekümmert und natürlich gewesen. Sie hatten sich großartig verstanden und das Großstadtleben in vollen Zügen genossen. Aber diese Zeiten waren, so kam es ihm vor, Lichtjahre entfernt. Er betrachtete sie, wie sie sich souverän unter den Gästen bewegte und mit Leuten plauderte, die ihn einschüchterten.
Er war gerade dabei, sich noch einen Whiskey zu besorgen, als er seinen Chef, Talbot, mit grimmiger Miene auf sich zusteuern sah.
»Moran, ich dachte mir schon, dass ich Sie hier treffe«, sagte er eine Spur zu laut. »Wo, zum Teufel, bleibt dieser Artikel?«
»Ich bringe aus den Leuten einfach nichts heraus. Sie wissen ja, wie das hier in der Gegend ist.« Sam zuckte zusammen, wie dämlich von ihm.
»Was soll das denn heißen, ›hier in der Gegend‹? Moran,
eins kann ich Ihnen sagen: Seit Wochen lassen Sie sich nicht mehr blicken. Alle Ihre regelmäßigen Verpflichtungen liegen brach. Für den Marktbericht musste ich schon meinen Jüngsten losschicken. Aber diese Geschichten sind das Hauptgeschäft dieser Zeitung. Die Verkaufszahlen sinken, Moran. Ich will aber meinem Sohn noch was hinterlassen, also enttäuschen Sie mich nicht. Ich gebe Ihnen noch zwei Wochen, danach können Sie’s vergessen.«
Sam lächelte, als sein aufgebrachter Chef davonstapfte. Er fing einen verärgerten Blick von Mona auf.
Die Leute hier waren alle gleich. Immer ging es nur um Testamente und Erbschaften. Sams Eltern hatten ihm nichts weiter hinterlassen als eine abgelaufene Straßenhändler-Lizenz und zwei gesalzene Begräbnisrechnungen. Sie hätten gar nicht gewusst, was ein Testament ist, geschweige denn sich Gedanken darüber gemacht, was sie ihren Kindern hinterlassen konnten.
Das war’s. Das Testament. Er musste an Byrnes Testament kommen. Dann würde er mit Sicherheit auch wissen, wer ein Motiv gehabt hatte, ihn umzubringen.
Tess hielt still, während Kate ihr Gesicht und ihre Hände begutachtete. Der Schulungskurs sollte am Montag beginnen, und sie hatte sich vor lauter Angst vor den Veränderungen, die ihr bevorstanden, die Haut von den Lippen und den Fingern gezupft.
»Tess, du musst damit aufhören.« Kate bemühte sich, gelassen zu bleiben. Der Anblick ihrer Schwester bedrückte sie.
»Ich weiß, Kate. Ich entschuldige mich«, erwiderte Tess, wohl wissend, dass sie es abends, wenn sie im Bett lag, wieder tun würde. Kate hatte mehrere Male im Schulungszentrum angerufen, um sich zu erkundigen, zu welchem Zeitpunkt
das Mittagessen stattfand und wie Tess’ Stundenplan aussah, aber niemand hatte zurückgerufen. Tess’ Unruhe war immer größer geworden.
»Darf ich dort essen, was ich will?«
»Ja, Tess.«
»Darf ich zu meiner normalen Zeit mittagessen?«
»Ich weiß nicht, Tess. Kann sein, dass sie dort andere Regeln haben. Du wirst dich schon daran gewöhnen.« Kate war ratlos.
Am Montag war sie vollkommen erschöpft, Seán hatte zweimal in der Nacht nach ihr gerufen und über Juckreiz geklagt. Etwas verworren hatte er gemurmelt, dass Tess ihn wieder belästigt habe. Kate war beunruhigt, bis sie die leere Whiskeyflasche unter seinem Bett entdeckte. Sie rieb ihn mit Zinksalbe ein, versicherte ihm, dass er keinen Ausschlag habe und weiterschlafen solle. Während sie in ihr Zimmer zurückkehrte, ging ihr durch den Kopf, was aus ihrem Bruder geworden war. Er hatte mittlerweile Kratzspuren im Gesicht und an den Händen, hockte den ganzen Tag lang nur in seinem Zimmer und machte keinerlei Anstalten, Dermot zur Hand zu gehen. Was, um alles in der Welt, sollte sie ohne Dermots Hilfe anfangen? Sie errötete, als ihr der alberne Kleinmädchentraum von gestern Nacht einfiel: Dermot saß auf einem alten, klapprigen Gaul, es war dunkel, er salutierte, hob sie zu sich aufs Pferd und ritt mit ihr in die Nacht davon. Am Morgen hatte sie sich keinen Reim mehr darauf machen können.
Sie wollte Dermot bitten, Seán zum Arzt zu fahren, und wenn er schon unterwegs war, würde es ihm sicher nichts ausmachen, Tess beim Schulungszentrum abzusetzen, vor allem, weil heute ihr erster Tag war. Aber Kate widerstand der Versuchung. Deirdre hatte sehr viel Mühe investiert, um Tess so weit zu bringen, dass sie selbständig mit dem Bus nach
Knockbeg fahren konnte, und deshalb wollte Kate sich jetzt nicht mehr einmischen, wenn sie auch noch so viel Angst um ihre kleine Schwester hatte. Außerdem hatte Deirdre versprochen anzurufen, sobald sie Tess an der Bushaltestelle abgeholt und zum Schulungszentrum begleitet
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