Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Peggy gelassen. Sie hatte erkannt, dass Tess ein bißchen »anders« war.
Tess wandte sich ihr zu und betrachtete sie aufmerksam. »Das hat mein Freund Dermot auch gesagt. Kennst du ihn?«
»Nein, aber es klingt vernünftig, findest du nicht? Es bringt nichts, immer alles verstehen zu wollen, oder?«
Tess nickte. Das wusste sie. Sie wusste, dass sie nicht alles verstehen musste, aber sie regte sich jedes Mal aufs Neue darüber auf. Ob sie wohl jemals so werden konnte wie Dermot und Peggy?
Kapitel 22
1961
A ls Maura Byrne merkte, dass sie wieder schwanger war, hatte sie Michael Byrnes’ Misshandlungen bereits als normalen Bestandteil ihres Lebens akzeptiert. Sie verschwendete keinen Gedanken an das neue Leben, das in ihr heranwuchs, und schlich wie ein Schatten ihrer selbst umher. Sie glaubte nicht, dass sie noch irgendwelcher echten Gefühle fähig war, und schleppte sich einfach von einem Tag zum anderen, als bloße Überlebende, ohne zu denken, ohne irgendetwas im Blick zu haben als ihre beiden geliebten Kinder, die in dieser Umgebung so behütet wie möglich aufwachsen sollten. Sie ging nur noch selten ins Dorf, aber nicht, weil sie sich der vielen Blutergüsse schämte. Es war ihr egal, wie sie aussah. Sie ging auch nur selten in die Kirche. Michael war nicht besonders religiös und bestand nicht darauf, zumal er sonntags dank des üblichen Katers ohnehin zu spät aus dem Bett kam. Mauras Leben drehte sich ausschließlich um den stillen, zurückgezogenen Seán und die hübsche Kate, deren Haare mittlerweile genau so schwarz geworden waren wie ihre und die erste Anzeichen derselben Ungebärdigkeit und Freiheitsliebe entwickelte, die auch Maura als kleines Mädchen nachgesagt worden war.
Auch der Schlaf hatte eine zentrale Rolle in Mauras Leben übernommen. In den vergangenen Jahren hatte sie immer schlechter geschlafen, aber seit der Arzt ihr Tabletten verschrieb,
hatte sich ihre Schlaflosigkeit gebessert. Das Schlafmittel war so stark, dass sie jetzt manchmal morgens erwachte und sich nur vage daran erinnern konnte, dass Michael betrunken nach Hause gekommen war und sie wie üblich terrorisiert und schikaniert hatte. Tagsüber, wenn sie dazu in der Lage war, quälte sie sich durch die täglichen Haushaltspflichten. Aber oft genug überließ sie Kate die Zubereitung des Abendessens und ließ sich in einem Zustand permanenter Erschöpfung ins Bett fallen. Niemand erwähnte ihren dicker werdenden Bauch oder die Tatsache, dass bald ein Baby zum Haushalt gehören würde, am allerwenigsten Michael. In ihren wacheren Momenten bedauerte Maura das Kind, über dessen Ankunft sich niemand, nicht einmal sie selbst, freuen würde. Als sie dann etliche Wochen später im Morgengrauen ihre zweite Tochter zur Welt gebracht hatte, warf Michael einen flüchtigen Blick auf das schlafende Kind und ging zur Arbeit auf die Weide. Er sagte nur, dass sie Teresa heißen sollte, wie seine Mutter.
Kapitel 23
1971
S eán hatte die Suche nach der Fremden, die er auf der Beerdigung seiner Mutter gesehen hatte, nicht aufgegeben. Da die Frau keine Verwandten in der Gegend hatte, war sie vermutlich in dem kleinen Hotel in Knockbeg abgestiegen und am Morgen der Beerdigung mit dem Taxi nach Árd Glen gekommen. Den Geschäftsführer des bescheidenen, etwas heruntergekommenen Hotels kannte Seán noch aus der Schule, obwohl Gerry Dunne ein paar Jahre älter war als er. Seáns Geschichte, dass Kate ihn geschickt hatte, um sich nach dem Nachnamen der Frau zu erkundigen, damit sie ihr eine Karte zum Gedenken an ihre Mutter schicken konnte, klang durchaus glaubhaft. Gerry hätte ihm gerne geholfen, er konnte sich durchaus an die Frau erinnern, aber sie hatte keine Adresse hinterlassen. Sie sei außerdem sehr still gewesen und habe gereizt auf seine Frage nach dem Anlass ihres Besuches in Knockbeg reagiert. Dass sie zur Beerdigung von Maura Byrne wollte, habe er auch erst erfahren, als ihre Droschke nicht aufgetaucht sei und er sie höchstpersönlich nach Árd Glen gefahren hatte. Ins Gästebuch hatte sie sich als Mrs. Brigid Daly aus Dublin eingetragen und zwei Nächte hier verbracht.
Seán fragte sich, ob seine Mutter all die Jahre über Kontakt mit dieser Frau gehalten hatte. Wohl eher nicht. Wahrscheinlich hatte sie durch die Todesanzeige in der Zeitung vom Tod
seiner Mutter erfahren. Gerry Dunne konnte sich noch erinnern, dass sie am nächsten Morgen beim Frühstück einem anderen Gast aus Dublin erzählt hatte, sie wohne neben dem
Weitere Kostenlose Bücher