Das Maedchen mit den Schmetterlingen
solche Ausbrüche auslösten. Sie musste Schwester O’Connell anrufen und ihr von dem Vorfall berichten. Vielleicht konnte Tess ihr Praktikum irgendwo im Dorf absolvieren, wo die Leute sie kannten und wo Tess vor Überraschungen sicher war.
Als Tess schließlich wieder auftauchte, war Bens Bus gerade eingetroffen, und bevor sie ihn abends ins Bett gebracht hatte, konnte Kate also nicht fragen, was schiefgelaufen war.
Tess stand einen Augenblick betreten in der Küche. Sie hörte ihren Bruder im Bus brüllen und verschwand, noch bevor er das Haus betreten hatte, wieder in ihrem Zimmer.
Vorsichtig betrat Tess die Küche, als sie hörte, dass Kate Ben ins Bett brachte. Sie hatte den ganzen Abend in ihrem Zimmer verbracht, weil sie wusste, dass Kate böse auf sie war. Hungrig schlang sie ihr Essen hinunter, das im Ofen für sie warm gehalten worden war. Sie wollte keinen Streit mit Kate und ärgerte sich, dass sie sich in der Galerie so danebenbenommen
hatte. Vermutlich durfte sie sich dort nicht mehr blicken lassen, und sie hatte das Gefühl, versagt zu haben. Den Ausbildungskurs hatte sie so gut überstanden, und keiner hatte ihr ihre Ausfälle nachgetragen. Tess hatte eine Liste angelegt mit allem, was sie nicht sagen durfte, um aus ihren Fehlern zu lernen und Ärgernisse zu vermeiden. Schwester O’Connell hatte mehr als einmal die Wogen im Ausbildungszentrum glätten müssen, das wusste sie, aber so schlimm wie heute war es noch nie gewesen, und sie war überzeugt, dass dieses Mal nicht einmal Deirdre den Schaden beheben konnte.
Heute Morgen in der Galerie war man anfangs durchaus freundlich zu ihr gewesen. Ann, die Empfangsdame, hatte ihr angeboten, ihren Mantel an die Garderobe zu hängen, und die Stirn gerunzelt, als Tess abgelehnt hatte. Als Kind hatte sie einmal einen guten Mantel verloren, und das sollte ihr nicht noch mal passieren. Der Geschäftsführer war ihr unsympathisch, er redete wie ein Mädchen, wie sie fand. Aber er ließ sich ohnehin kaum blicken und richtete nicht ein einziges Mal das Wort an sie. Ein Mädchen namens Siobhán sollte sie einweisen, aber die telefonierte ununterbrochen mit einem gewissen Mike, und Tess wusste nicht, was sie machen sollte. Sie fürchtete, dass keine Kunden anrufen und die Galerie keine Geschäfte machen konnte, solange Siobhán das Telefon blockierte. Außerdem hatte Tess mit Deirdre und Peggy stundenlang den Satz: »Guten Morgen, Marshall’s Art and Craft Centre, wie kann ich Ihnen behilflich sein?« einstudiert. Das kleine Schaltpult sah genauso aus wie das, mit dem sie geübt hatte, und jetzt hatte sie keine Chance zu zeigen, was sie konnte. Niemand sagte ihr, wo die Toiletten waren, und sie traute sich nicht zu fragen. Sie musste ganz dringend, riss sich aber zusammen und dachte an Dermots Ermahnungen. Nachdem sie auch noch Tee aus ihrer mitgebrachten Tasse getrunken hatte,
wurde langsam ihre Unterhose feucht, und sie fing an zu weinen. Ann half ihr und zeigte ihr die Toilette, und danach ging es Tess besser. Als Ann sie wieder an ihrem Arbeitsplatz ablieferte, schimpfte Siobhán, weil sie einfach weggegangen war, und sagte, sie hätte in der Pause aufs Klo gehen sollen. Sie schnappte sich Tess’ Tasse und wollte wissen, was denn an ihren Tassen hier nicht stimmte und ob Tess dächte, sie hätten alle eine ansteckende Krankheit oder was? Als Tess daraufhin in Tränen ausbrach, wandte sich Siobhán an Ann und sagte laut: »Wie soll ich’s mit der da bloß aushalten bis sechs?«, und das war der Grund, warum sie ausgerastet war. Deirdre hatte ihr gesagt, dass um fünf Uhr Schluss sei und Kate sie dann abholen würde. Aber wenn Kate nicht wusste, dass sie bis sechs in der Galerie bleiben musste, fuhr sie vielleicht wieder weg, weil sie dachte, Tess hätte sich verlaufen, und dann kam sie womöglich nie wieder nach Hause. Tess glaubte plötzlich zu ersticken und fing an zu schreien. Alle Versuche, sie zu beruhigen, waren vergeblich. Ann wollte sie in den Arm nehmen, was Tess Geschrei nur verstärkte, weil Ann eine Fremde war und man sich von Fremden nicht anfassen lassen darf. Sie hörte, wie der Geschäftsführer mit seiner Mädchenstimme verlangte, dass die Polizei gerufen wurde, was sie vollends in Panik versetzte, denn beim letzten Mal, als jemand die Polizei gerufen hatte, hatte man sie weggeschickt und jahrelang von Kate getrennt. Sie schrie nach Kate und hörte, wie Ann darauf bestand, Kate zu benachrichtigen und nicht die Polizei.
Die ganze
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