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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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dem befehlsgewohnten Ton ihrer Mutter an. »Gibt es hier irgendwelche Werkzeuge?«
    Geistesgegenwärtig kniete sie sich vor den Wagen hin. Da es Wobbols Gefährt war, vermutete sie, er habe aus Rache ein defektes Rad angebracht. Die Deichsel war krumm eingesetzt, der Achsnagel zerborsten. Tanaquil gab Anweisungen, zwei der Lagerfeuer zu einer provisorischen Schmiedeesse umzufunktionieren. Sie scheuchte die Handlanger der Karawane zu dieser und jener Verrichtung umher. Sie selbst hämmerte einen neuen Achsnagel aus einer Brosche, die man ihr überlassen hatte. Es erforderte keine große Kraftanstrengung. Sogar Gork ließ sich herbei, dieser tumben Dorfmaid dabei zuzusehen, wie sie Räder reparierte.
    Als das Rad wieder säuberlich an seinem angestammten Platz saß, richtete Tanaquil sich auf.
    »Gute Arbeit«, gab Gork grummelnd zu. »Wo lernt ein Mädchen so was?«
    »Meine Brüder haben es mir beigebracht«, entgegnete Tanaquil vorsichtig, »drüben in Um.«

 
5
     
    Fast drei Wochen lang reiste Tanaquil mit der Karawane. Jede Minute war sie aufgeregt. Jede Minute lebte sie mit einem Gefühl von Unsicherheit und Gefahr, das sie nie zuvor gekannt hatte. Sie war draußen in der Welt.
    Mindestens einmal am Tag kamen sie an irgendeiner Wegmarke vorbei, die die Route zur Stadt bezeichnete. Die meisten dieser Wegmarken waren einfache Steinpfosten von zehn oder elf Fuß Höhe, die oft wegen der Sandverwehungen um ihre Basis herum wesentlich kürzer wirkten. Als sie sich jedoch der Stadt näherten, begannen sich erste Steinpylonen gen Himmel zu recken, mit eingeritzten Gebeten oder Zitaten versehen. Am neunten Tag erreichten sie ein weiteres Wasserloch. Am sechzehnten Tag betraten sie eine große Oase mit Palmen, Akazien und Feigenbäumen, an deren Rändern sich eine Ansiedlung erstreckte. Tanaquil war nervös; es wäre durchaus möglich, daß sie sich ihrer hier entledigen würden. Nichts anderes mehr war zu reparieren gewesen, und ihr Gewicht belastete den Wagen, auf dem sie fuhr, zusätzlich. Auch mit dem Piefel hatte es Probleme gegeben. Obwohl es ihr immer wieder gelungen war, die Zuhörer davon zu überzeugen, daß sein Gegrummel und seine Ausrufe nur eine seltsame Form des Bellens seien, hatte sie verschiedene Leute, unter anderem die Händler, die in den seidenen Sänften reisten, dabei beobachtet, wie sie abergläubische Abwehrgesten vor dem Piefel vollführt hatten. Zweimal hatte es sich nachts in die Unterkünfte dieser Kaufleute geschlichen und jemandes kostbaren Läufer als Toilette zweckentfremdet.
    Die vergangene Nacht war die schlimmste gewesen. Das Piefel hatte seine Exkremente direkt neben dem Haupt des schlafenden Gork abgelegt und ihn, während es Sand auf seine Verrichtung scharrte, beinahe lebendig begraben. In dem Moment jedoch, als sie die Oase erreichten, hörte die goldene Uhr des ungnädig dreinblickenden Gork auf zu ticken. Nachdem er sie geschüttelt, verflucht und in den Sand geschleudert hatte, merkte er, daß Tanaquil neben ihm stand. Er überließ ihr die Uhr mit schlimmen Drohungen, doch sie reparierte das gute Stück in einer halben Stunde. Danach gab es auch nicht mehr die kleinste Andeutung, daß Tanaquil die Karawane verlassen sollte.
    Den Führer sah sie selten. Tagsüber reiste er wie die Kaufleute, in einem Ballon aus Seide, den man über einem Weidenrutengeflecht auf die Kamelhöcker montiert hatte. Die anderen für die Karawane verantwortlichen Männer gaben die Befehle, schrien herum, stellten die Spielregeln für die einzelnen Situationen auf, schwatzten über Wagenrennen und beschäftigten sich mit reichlich riskanten Glücksspielen. Die Knechte und Handlanger behandelten Tanaquil wie einen der ihren, obwohl sie ein Mädchen war und deshalb natürlich weit unter ihnen stand. Man hatte ihr deren abgelegte Kleidungsstücke überlassen, die sie gegen ihr fadenscheiniges Abendgewand eingetauscht hatte. Soweit sie das anhand von Schlitzen in den Säcken, Zufällen und Geruchsmerkmalen beurteilen konnte, führte die Karawane Seifenplatten, Zucker, Koniferenweihrauch und Papier aus einer Stadt des Ostens mit sich. Tanaquil hatte noch nie von dieser Stadt gehört. Ihre Mutter hatte während der Unterrichtsstunden allerhöchstens die Stadt im Westen erwähnt. War das in irgendeiner Weise bedeutsam? Meist versuchte Tanaquil, überhaupt nicht an ihre Mutter zu denken.
    An das Einhorn versuchte sie ebenfalls nicht zu denken.
    Das Einhorn war etwas so Bizarres, wie es nur einmal geschehen

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