Das Mädchen und das schwarze Einhorn
hoch hier in dem Raum zu schweben.
Zu welchem unpassenden, lächerlichen oder tödlich gefährlichen Augenblick würde es auftauchen?
Später begaben sie sich nach unten zum Dinner, wo sich ihnen fast genau dieselbe Szene wie am vergangenen Abend darbot. Gasb trug einen Rabenhut. Der Fürst trug seine toten Häute. Keiner von beiden schenkte Tanaquil oder Lizra auch nur einen einzigen Blick. Doch Tanaquil blickte den Fürsten an und versuchte sich von der Tatsache zu überzeugen, daß dies ihr Vater war. Je mehr sie sich bemühte, es zu begreifen, desto unwohler fühlte sie sich, desto verwirrter wurde sie.
Lizra und sie aßen nur sehr wenig, was das Piefel wieder wettmachte. Heute nacht hatte Lady Orchid ihr Äffchen zu Hause gelassen. Lange vor Mitternacht kehrten sie in Lizras Gemächer zurück, spielten an ihrem silbernen Tisch Skorpione - und - Leitern, Schiffe - und -Streitwagen oder setzten einfach nur ihr nachmittägliches Gespräch fort - was sie im Alter von fünf, von zehn, von dreizehn Jahren getan hatten, und die vielen Dinge die sie »auch gemacht< oder >nie gemacht< hatten. Das Piefel hatte sich ein Lager unter Tanaquils Bett bereitet und war früh darunter verschwunden. Als es eingeschlafen war, sahen sie im Kerzenschein eine silberne Schere aufblitzen, die es aus Lizras Zimmer stibitzt hatte, eine kleine Glasflasche, eine Perlenkette und zwei oder drei Gegenstände, die sie nicht identifizieren konnten. »Wem mögen die wohl gehören? Es muß nachts zu Raubzügen aus deinem Fenster entwischen.«
Schließlich vernahmen sie den Klang der Mitternachtsglocke. Nachlässig leierte Lizra: »Begrüße das Geheiligte Tier.«
Sie gingen mit seltsamen, unausgesprochenen Gefühlen auseinander, als könne die jeweils andere sich über Nacht in Luft auflösen, fuhr es Tanaquil durch den Kopf. Tanaquil fand keinen Schlaf. Zweifel begannen sie zu plagen. Hätte sie Lizra besser nicht eröffnet, daß sie Schwestern waren? Welche Verpflichtungen ergaben sich daraus für sie beide? In einem Moment war es wundervoll gewesen, unangenehm jedoch im nächsten. Das Piefel glitt mit einem von Lizras Jadebauern aus dem Schiffe - und - Streitwagen-Spiel aufs Bett und legte ihr die Figur unter das Kinn. Es hatte ihr ein Geschenk gebracht. Sie dankte ihm aus vollem Herzen und schlief endlich doch ein, den Kopf in seiner pelzigen Flanke vergraben.
Die Festprozession des Fürsten Zorander mäanderte durch die Stadt wie eine juwelenbesetzte Schlange.
Es war die zweite Stunde des Nachmittags und brutofenheiß.
Die Hitze legte einen Schleier über alles. Sie intensivierte Millionen Gerüche, wohlduftend und stinkend. Sie schimmerte auf Edelsteinen und Metall und schickte blendende Strahlen in alle Richtungen.
Doch die Hitze schreckte die Menschenmassen nicht ab, die seit Sonnenaufgang auf den Beinen waren.
Sie drängelten und stolzierten einher, schwelgten in Spielen und Balgereien. Sie rotteten sich an den Straßenrändern zusammen und sahen zu, wie die Prozessionsschlange sich von Prunkmeile zu Prunkmeile näher wand.
Es gab Musikanten in Luchsfellen und Tänzerinnen in regenbogenfarbener Gaze, mächtige Soldatenschwadronen in flammenden Panzern, mit wippenden Helmbüschen und Lanzen, Bögen, Schwertern und Schlachtzeichen, die auf vergoldeten, blumengeschmückten Stangen einhergetragen wurden. Es gab Standarten in Purpur, Magenta- und Scharlachrot. Es gab goldene Streitwagen, gezogen von glänzend gestriegelten Pferden, von deren Zaumzeug und Hufen Brillanten glitzerten. Es gab ohrenbetäubende Trompeter, Clowns, die als wilde Tiere oder Seeungeheuer verkleidet waren, als Löwen und Tümmler, Tintenfische und Schakale, die umherwogten und hüpften, spielerische Angriffe aufeinander starteten oder bunte Bänder aus den Nasen der Zuschauer zogen. Es gab Mädchen, die weiße Mohnblüten, und Mädchen, die rote Lilien streuten. Es gab Terrakottakamele, auf deren Höckerrücken sich grimmige, wüstentauglich gekleidete Männer wiegten.
Dann kamen die lebenden Bilder. Eins zeigte ein großes Schiff mit prall gefülltem, türkisfarbenem Segel, das sanft auf den Rücken von zwanzig blau und silber gekleideten Männern schaukelte, die das Meer darstellten. Auf einem anderen Tableau befand sich eine Nachbildung der Stadt in vergoldetem Holz, bei der auch der fünfzehnstockige Fürstenpalast und Püppchen, die ihn bewachten, nicht fehlten. Das ganze Bild hüpfte auf und ab durch die Stadt, mit abgehackten, puppenhaften Bewegungen,
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