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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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die die Bürger darstellen sollten. Andere lebenden Bilder zeigten Szenen aus Geschichte oder Mythos. Das letzte Tableau bildete ein Ereignis des Gründungsmythos ab. In Karmesinrot und Gold sah man einen der früheren Fürsten, und vor ihm stand ein riesiges Einhorn, Es war aus Alabaster von reinstem Weiß, Mähne und Schweif mit Diamanten besetzt. Ein verborgener Mechanismus sorgte dafür, daß sein Haupt sich vor dem Prinzen verbeugte und wieder aufrichtete, verbeugte und wieder aufrichtete, während der Prinz dem Chrysolithhorn eine Blumengirlande entgegenstreckte.
    Hinter diesem letzten Tableau mit dem Einhorn zog der amtierende Fürst einher, in seinem Streitwagen gefahren und von Soldaten mit Armbrüsten und gezückten Schwertern umgeben. Er trug die herrschaftlichen Gewänder, die in seiner Bibliothek ausgestellt gewesen waren, den Purpur und die Brustplatte. Sein Antlitz war eiseskalt; es schien, als könne er die Hitze nicht spüren. Seinen Rücken hinunter glitzerte der Mantel aus Haihäuten, mit den beiden cremefarbenen Fossilien an seinen Schultern befestigt — alt, so alt wie die Erde selbst vielleicht. Auf seinem Haupt ragte der Kopf eines blauen Hais gen Himmel.
    Hinter dem Prinzen kam der Streitwagen mit seiner Tochter, der Prinzessin, die selbst wie eine grüngoldene Puppe wirkte. An ihrer Seite befand sich eine rothaarige Prinzessin aus irgendeiner fremden Stadt.
    Dann zogen die Adligen einher, die Damen, die Berater und natürlich Kanzler Gasb, heute in einem Hut von der Form eines Seeadlers.
    Dem Hof folgten Tierbändiger, die die Kreaturen der fürstlichen Menagerie an der Leine führten; einige von ihnen, so sagte man, seien Automaten, doch alle knurrten sie, stolzierten einher und starrten um sich.
    Weitere Musikanten tänzelten hinter den Tieren und spielten sanfte, beruhigende Weisen.
    Als nächstes paradierten Kaufleute und Würdenträger und alle Gilden entlang in ihren Prozessionsgewändern und mit ihren Symbolen und Bannern, die Töpfer und die Steinmetze, die Schiffbauer und Weinhändler. Die Gilde der Kunsthandwerker wirkte unglücklich, und ihre Mitglieder warfen immer wieder nervöse Blicke um sich und über die Schulter zurück auf die Salzsieder, die hinter ihnen stolzierten und an den Blicken Anstoß zu nehmen schienen.
    Das Ende der Schlange bildeten weitere Soldatenkontingente mit Wagen und Kriegsmaschinen, sorgsam geölt und bekränzt, Kanonen mit Hyazinthen, Katapulte mit Affodill, Rammböcke mit Rosen.
    Die Masse bejubelte alles. Sie genoß alles. Dies waren Wohlstand und Macht der Stadt, gleichsam zum Anfassen. »Wir besitzen das alles «, sagten sie. »Es gehört uns «, und deuteten auf Dinge, die sie über die Köpfe anderer hinweg einmal im Jahr zu Gesicht bekamen, und auf den kühlen Fürsten Zorander und das alabasterne Einhorn, das sich vor ihm verbeugte.
    Von ihrer Position in Lizras Streitwagen aus, in fischbeinverstärkte Seide gezwängt und mit Topasen geschmückt, war Tanaquil sich der Anwesenheit des Fürsten vor ihnen, inmitten seines waffenstarrenden Walls aus Soldaten, und der Anwesenheit von Gasbs Seeadler fünf Streitwagen hinter ihnen durchaus bewußt.
    Lizra ließ sich nicht ablenken. Bewegungslos wie eine Statue stand das Mädchen in ihrem Streitwagen, blaß und finster dreinblickend, halb von ihren Gewändern erstickt. Hin und wieder warf sie in ihrer respektlosen Art Tanaquil ein »Schau nur mal dort« hin und zeigte ihr etwas in ihrer königlichen Art. Lizras Haltung war in der Öffentlichkeit ebenso gemessen wie die ihres Vaters.
    Die Dinge, auf die sie Tanaquil hinwies, waren oft außerordentlich befremdlich.
    Nicht nur die Prozessionsteilnehmer waren verkleidet. Auch in der Zuschauermenge befanden sich Personen mit indigofarbenen Gesichtern, die auf Stelzen einherliefen, riesige, furchteinflößende Masken, Tonnen auf Beinen und Männer mit Fischköpfen. Es gab sogar zwei Clowns, die noch weiter als die Spaßmacher des Fürsten gegangen waren. Sie hatten sich in ein Kostüm aus Leinwand und Pappmache gezwängt, das sie zu einem Pferd machte, doch hatte dieses Pferd ein Horn auf der Stirn. Sie waren das Einhorn der Stadt. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, war das Hinterteil des Pferdes betrunken oder verrückt: Während der vordere Part stolz trippelte und manchmal Leute verhalten mit seinem Horn berührte, plumpste das Hinterteil auf den Boden, machte Spagat oder rollte sich zu einer Kugel zusammen.
    »Das bringt Unglück«, bemerkte der

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