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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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folgte, Tanaquil tat es. Es handelte sich um jene Wolke, die sie zuvor bereits über dem Meer ausgemacht hatte. Mittlerweile war sie nicht mehr so klein, und sie war schnell über den Himmel geglitten, von einem heißen, feuchten Wind getrieben, der mit einemmal vom Ozean auffrischte und die Seidengewänder des fürstlichen Hofstaats und die Mähne des knienden, hornbestückten Pferdes flattern ließ.
    Die Wolke hatte eine Gestalt. Sie war wie eine lange, dürre Hand mit ausgestreckten Fingern. Sie war sehr dunkel. Es gab keine anderen Wolken.
    Glöckchen und Pailletten klimperten im Wind. Der strahlende Sonnentag wurde ein wenig fahler.
    »Kein gutes Omen«, meinte Oppit.
    Diesmal widersprach ihm niemand.
    Einzelne Leute in der Menge deuteten gen Himmel. Der Lärm, der nun heraufdrang, war wie verwandelt, dringlich und unglücklich.
    Das hornbestückte Pferd erhob sich und schüttelte seine Mähne. Es blickte wild um sich, blähte die Nüstern.
    Tanaquil beobachtete, wie die Hand-Wolke über den Himmel geflogen kam, und das Haar peitschte ihr ins Gesicht. Lizras Haar rollte sich auf und befreite sich aus dem Diadem, und der Haihautumhang des Fürsten schlug die Luft wie Flügel.
    »Sie greift nach der Sonne«, keuchte Lizra.
    Wolkenfinger glitten über die Sonnenscheibe, und dann schloß sich die ganze Hand um den feurigen Ball. Die Sonne verschwand. Ein Vorhang aus Dunkelheit senkte sich vom Himmel nieder.
    Aus der Menschenmenge stiegen nun Schreie hoch, unbestimmtes, weit entferntes Poltern und Gekreische zog die Straßen entlang.
    »Idioten«, ließ sich Gasbs schneidende Stimme vernehmen. »Es ist nur das Wetter.« Regenfäden prasselten nieder. Der Regen war heiß und salzig.
    Das Pferd mit dem Horn warf seinen Kopf herum, rollte mit den Augen und wieherte. Der Fürst wich langsam vor ihm zurück, würdig und entrückt, und zwei Stallburschen erklommen die Plattform, packten das Pferd an seinem Zaumzeug und führten es zur Seite.
    Die Wolke verschwand nicht. Die Dunkelheit verdichtete sich auf geheimnisvolle Weise. Die Stadt schien unter einer Schattenglocke zu liegen. Jenseits davon war der Himmel klar und strahlend blau ...
    Und dann, über die verdeckte Rampe, die vom Meer heraufführte, kam das Einhorn ein zweites Mal. Und nun war es so wirklich wie die Dunkelheit, die über die Stadt gefallen war.
    Es stand auf der Plattform, ein Ding aus Elfenbein, lichtumstrahlt. Und in dem Schatten war das Horn ein weißer Blitz.
    Nun hüllte eine furchtbare Stille die Menschenmenge ein. Nichts war zu hören außer dem Blasen des Windes, dem Klirren der Gegenstände und dem Platschen der Regenfäden auf den Boden.
    Dann trat das dressierte Pferd aus und warf sich nach vorn, schmetterte sein unechtes Horn gegen die Plattform, und die Attrappe knickte ab und rollte klappernd davon.
    Das Einhorn wandte sich um. Das Einhorn bewegte sich. Es glich einem Pferd nur so sehr, wie ein Griff einem Schwert gleichen mochte. Es hob seinen Vorderhuf, hielt ihn zierlich in der Schwebe, wie eine Statuette. Und dann ließ es den Huf niedersausen, auf den Boden, auf den Teppich. Es scharrte purpurfarbenen Staub hervor, dann purpurfarbenes Feuer. Der Teppich ging in Flammen auf, und das Einhorn bäumte sich auf. Nein, nicht wie ein Pferd. Es war ein Turm, und das Horn strich über den Himmel. Der Himmel mußte zerbrechen und fallen — Und auf dem Platz drängelte und schubste die Menge, brüllte, kämpfte gegen sich selbst und für die Flucht.
    »Oh«, machte Lizra.
    Fürst Zorander hatte die Röcke seiner Robe gerafft; der Haikopf rutschte seitwärts von seinem eigenen herunter. Er rannte. Er stieß seine Leibgarde beiseite und stolperte in seinen königlichen Streitwagen. Sein Gesicht war nicht mehr kühl und distanziert. Es war ein törichtes Gesicht, das keine Knochen mehr zu haben schien. »Aus dem Weg!« kreischte er gellend.
    Der Wagenlenker schwankte. »Die Leute, Eure Hoheit ...«
    »Peitsch sie aus dem Weg. Reite sie nieder. Ihr ...« an die Soldaten gewandt — »tötet dieses Ungeheuer!«
    Der Platz hatte sich mit bemerkenswerter Schnelligkeit geleert. Die Zuschauermenge und die Prozession waren in ihrer Panik nicht nur in die angrenzenden Straßenzüge ausgewichen, sondern drängten sich auch zwischen den Gebäuden, strebten durch Alleen und Gärten, die um den Platz herum lagen, hinweg. Ganze Menschentrauben quollen über Mauern und Zäune, kletterten Bäume hinauf, lösten sich auf.
    Zoranders Streitwagen wühlte sich

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