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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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und Flügeln. Hin und her schwebten sie, in einer Art Tanz, und schwach trug der Wind ihr zu, daß auch dort Musik erklang.
    Nie würden Unglück oder Furcht an diesem Ort herrschen, und doch, tief in ihr versteckt, gab es dies beides. Solche Gefühle waren ihr fremd geworden. Sie fühlte sie in ihrem Herzen, in ihrem Geist, und war verwirrt. Doch sie wandte sich von den geflügelten Leuten und den Luftburgen ab und blickte zurück auf den Weg, den sie gekommen war.
    Sie hatte es vorher nicht bemerkt. Oder nicht bemerken wollen.
    Das Gras und die Blumen, über die sie und das Piefel gestapft waren, die sich kurz nach ihrer Berührung aufgerichtet hatten, waren wieder niedergesunken. Die Stengel waren zerquetscht oder geknickt, und inmitten all der Sanftheit und Farbe hatte eine rauhe Dürre eingesetzt, die Spur des Todes.
    »Diese Welt ist nicht die unsere. Auch eingeladen hätten wir nicht kommen dürfen. Sieh nur, sieh, was wir angerichtet haben!«
    Das Piefel setzte seine Pfote auf ihren Fuß. »Leid tun.«
    Tanaquil kniete sich hin und sah ihm in seine gelben Augen. Sie waren Gefährten, sie und das Piefel, aus einer unvollkommenen Welt.
    »Es ist nicht dein Fehler. Es ist meiner.« »Leid tun«, wiederholte das Piefel, und fragend setzte es hinzu: »Böse?«
    »Ich werde dich tragen müssen«, erklärte Tanaquil.
    »Du mußt es zulassen. Auf meinen Schultern. Und ich trete nur dorthin, wo ich schon gegangen bin — es ist so entsetzlich, wie eine Brandwunde.«
    Und in diesem Augenblick bemerkte sie das Einhorn. Es war bereits ein Stück die andere Seite des Hügels hinuntergetänzelt, dem gigantischen Garten unter der schwebenden Stadt entgegen. Sein Horn strahlte hell.
    Sollte sie ihm hinterherrufen? Wahrscheinlich hatte es sie vergessen. Ab und zu, nur wenn sie irgendwelchen Lärm gemacht hatten, hatte es sich noch nach ihnen umgeblickt, oder vielleicht hatte es auch die Spur der Zerstörung in Gras und Blumen gesehen und sie fortgewünscht. Doch hier konnte es nicht angreifen, konnte sie nicht verjagen, wie sie es verdient hätten.
    Sie waren so sorgsam darauf bedacht gewesen, sie und auch das Piefel, nichts zu verderben. Doch allein ihre Anwesenheit genügte schon. Die Schritte selbst, die sie machten.
    Sie nahm das Piefel hoch, was es gestattete. Es ließ zu, daß sie es sich, warm und schwer, um den Nacken legte. Seine Hinterbeine baumelten herunter, und sein Schwanz trommelte auf ihren Rücken. Es verankerte seine Krallen in ihrem Kleid und starrte finster um sich, das Gesicht dicht neben dem ihren.
    Tanaquil stieg den Abhang hinunter, die Stadt im Rücken. Sie setzte ihre Füße genau in die Spuren der Zerstörung, die sie bereits angerichtet hatten. Sie untersuchten sie nicht genauer, und das Licht der Abenddämmerung war gnädig.
    Sie hatte etwa zweihundert Fuß zurückgelegt, als sie hörte, daß Hufdonnern ihnen folgte. Sie hielt sofort an, nicht aus Furcht, denn die konnte man hier nicht empfinden. Trotzdem war sie erstaunt. Sie wirbelte herum, das Piefel um die Schultern geschlungen, und stellte sich dem Einhorn entgegen, das auf sie zuraste, um weniger als zwei Fuß vor ihr anzuhalten. Nun war sein Horn zu einem Schatten verblichen.
    In der wachsenden Dunkelheit konnte Tanaquil das Einhorn nicht besonders gut erkennen, nur das Aufglühen eines Auges, die Gesichtsmaske aus Ebenholz — »Einhorn«, sagte Tanaquil. Mehr konnte sie nicht sagen.
    Der grimmige Kopf schnellte empor. Die Sterne am Firmament warfen Diamanten auf das Perlmutter des Horns. Es explodierte im Licht wie weißes Feuer. Es drehte sich im Kreis, und der Himmel wankte. Was war geschehen? Hatte es sie aufgespießt? Ohne Furcht versuchte Tanaquil, zu begreifen. Denn das Mondfeuerhorn hatte ihre Stirn berührt, für Bruchteile einer Sekunde, der Hauch einer Nadelspitze, sanft wie Schnee. »Hey«, sagte das Piefel. »Gut. Nett.« Und reckte sein Gesicht empor.
    Und das brennende Schwert des Horns bewegte sich über Tanaquils Schulter hinweg, bevor es sich zu Boden senkte. Wie schwarzer Samt glitt seine Zunge aus dem Mund. Einmal leckte es über das Piefel, rasch, gründlich, rauh, von Kopf bis Schwanz.
    Der Atemduft des- Einhorns roch wie Wasser, wie Licht. Natürlich.
    Tanaquil und das Piefel warteten auf dem Hügel in der Landschaft. Sie holten tief Luft, als seien sie verlorengegangen und wiedergefunden worden. Das schwarze Einhorn sprang zur Seite und flog den Hang hinauf, dem Lichtstrahl hinterher. Auf dem Gipfel angekommen,

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