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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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stieß es sich ab, und sprang, sprang in die Luft, in den letzten grünen Schimmer des Himmels. Wurde ein Stern. War fort. Für immer entschwunden.
    »Das war ein Abschied«, stellte Tanaquil fest.
    »Mrr«, machte das Piefel. Es schlief auf der Stelle ein.
    Und Tanaquil, nun allein verantwortlich, nahm ihre Rückkehr aus dem Himmel wieder auf.
    In der Nacht der perfekten Welt stiegen zwei Monde gemeinsam im Osten auf. Der eine war ein voller, goldener Mond, der andere eine dünne, bläuliche Sichel. Sie strahlten hell, und mit dem Licht der Sterne zusammen lag die Landschaft so erhellt wie am Tage da.
    Und die Sterne zogen in verschiedenen Konstellationen auf. Und sie formten Bilder. Nicht so, wie sie es nach den Angaben der Experten in Tanaquils Welt taten, sondern wirklich. Erst eine Frau, die von Osten nach Westen aus Zirkonen und Beryllen über das Firmament glitt und eine Waage hielt. Und als sie versunken war, ging ein Streitwagen aus Rosenquartzen und Opalen auf. Es waren keine Pferde vor seine Deichsel gespannt  — er hatte überhaupt keine Deichsel. Jede Stunde, so wollte es Tanaquil erscheinen, zog eine andere Konstellation auf. Nach dem Streitwagen ein Löwe, nach dem Löwen zwei Delphine, ein Baum, ein Vogel, ein gekrönter Mann, eine Schlange, die das Firmament wie ein Strom von Silberfeuern durchfloß.
    »Da siehst du es«, murmelte Tanaquil, als die Himmelsbilder nacheinander aufstiegen, »wie hätten wir hier wohl leben können?«
    Im Mond- und Sternenlicht erkannte sie die verbrannten Fußspuren im Gras, die geschwärzten Blumen. Nie war ein Pfad so einfach gefunden worden.
    Unter den kühl-warmen Lampen der Nacht stolzierten Panther am Seeufer umher. In den Wäldern heulten vorwurfsvoll die Füchse. Hätte sie Tranen vergossen, wenn es möglich gewesen wäre? Sicher wäre sie ärgerlich gewesen.
    Schließlich gelangten sie wieder zu den Obsthainen oberhalb des Meeres. Im Mondlicht, unter der versinkenden Sternenhand des Königs, schimmerte die Wasserlinie wie Quecksilber. Die Sternenschlange wand sich über den Obstgärten dahin, und der Gesang der Bäume hielt an, bei Tag und bei Nacht:
    Tanaquil wanderte durch die Obsthaine und gelangte zu einem stillen Baum. Nichts anderes hatte sie erwartet. Es war der Baum, an dem sie den Apfel berührt hatte.
    Das Piefel erwachte. Es befragte den Apfelbaum. »Kein Insekt.«
    »Kein Insekt. Meine Schuld.« Sie verließen die Obstgärten und traten zwischen die Blumen. Wie geschwärzte Knochen lagen die gebrochenen Stengel, wo sie zuvor gegangen waren.
    Sie erreichten den Strand. Sie war nicht müde. Unbeweglich und grimmig hing das Ei aus Dunkelheit am lichtdurchfluteten Himmel. Das Tor. Ihr Tor.
    Tanaquil warf einen letzten Blick auf das Land der Baume und Blumen, der Schönheit. »Verzeih nur.«
    Das Piefel schüttelte Eich. Seine Ohren richteten sich steil auf, die zuckenden Schnurrhaare kitzelten sie an der Wange. »Insekt.«
    Eine sonderbare Bewegung fand auf dem Boden statt. Die Blumen richteten sich wieder auf, die schwarzen Hülsen fielen von ihnen ab. Wie ein Lauffeuer auf der Erde verbreitete sich die Heilung vom Meeresufer aus über die Ebene hinweg. Sie konnte zwar nicht hören, wie der stumme Apfelbaum wieder zu singen begann, doch die
    scharfen Ohren des Piefels machten den wiedererstandenen Gesang aus.
    Eine Antwort auf ihre Entschuldigung? Weil sie sich und das Piefel von dieser Welt entfernte und die Welt nun, da sie wie ein unerträgliches Gewicht von ihr genommen wurden, wieder zu atmen vermochte?
    Tanaquil wußte es nicht. Ein Stich ganz gewöhnlicher Wut durchzuckte sie. War es etwa ihr Fehler, daß sie, da sie nur dem zweitbesten Versuch entstammten, alles hier beschmutzten?
    »Halt dich fest!«
    Sie rannte ins Meer, und das quecksilbrige Wasser spritzte auf. Kurz vor dem Tor stieß sie sich ab, warf sich empor und tauchte vorwärts in das Tor ein. Das Piefel schlug die Krallen in ihre Schulter. Hier herrschte eine andere Art von Nacht. Die Vollkommenheit hatten sie ein für allemal hinter sich gelassen.

 
12
     
    Draußen herrschte Tageslicht. Unvollkommenes Tageslicht, das grell schien und blendende, klaffende Wunden ins Meer riß. Auch war das Meer unter dem Klippenbogen dunkel, irgendwie aufgetürmt, obwohl die Flut sich ansonsten zurückgezogen hatte.
    Tanaquil, bis zu den Knien in beißendem Salzwasser, pflügte sich zum Eingang des Bogens und ließ dann das Piefel auf den trockenen Strand hopsen.
    Nur einen kurzen Blick hatte

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