Das Mädchen und das schwarze Einhorn
sie für ihre Welt übrig. Sie war noch nicht bereit für diese Welt. Es gab noch Dinge, die erledigt werden mußten.
Sie bemühte sich, nichts zu fühlen, obwohl all die gewohnten, normalen Emotionen - Ärger, Bestürzung, Trauer, Zweifel, pures Durcheinander — jetzt in ihr brodelten. Sie stand in dem Gezeitenpfuhl vor dem Schimmern, dem glühenden Oval, das so einladend wirkte - so einladend, wie das Tor auf der anderen Seite eine Warnung ausgestrahlt hatte —. Und dann, die Arme bis zu den Ellbogen hineingetaucht, begann sie, das Tor zu zerstören, wie eine wütende Fischersfrau.
Sie riß es in Stücke und schleuderte die Stücke beiseite. Und während sie ihr Zerstörungswerk vollbrachte, flimmerte das Licht des Tors auf und erlosch, und nichts als Flecken der einstigen Leuchtkraft, wie Schleimspuren einer magischen Schnecke, blieben zurück.
Tanaquil spürte, wie sich zwei Tränen aus ihren Augen lösten, und schüttelte sie ab in die salzige See. Sie kniete sich ins Wasser und hantierte am Fuß der Klippe herum. Das Fossil fiel ihr in die Hände. Sie löste es aus dem Gestein. Und als sie sich nun, tropfnaß, wieder aufrichtete, gewahrte sie, daß jetzt das letzte Leuchten des Bogens erloschen war. Sie konnte die andere Seite der Klippe erkennen, die brennende Sonne, die unfruchtbare Ödnis des Sandes.
»Ich will es richtig machen«, sprach sie zu sich selbst.
In der anderen Welt hatte Tanaquil keine Müdigkeit gekannt. Nun war sie ausgelaugt, als wäre sie Tage und Nächte ohne Unterlaß gewandert. Nichtsdestotrotz mußte sie die schlüpfrige Klippenwand erklimmen und das Fossil dort oben herausreißen. Sie mußte jede Möglichkeit vereiteln, daß das Paradies jemals wieder betreten werden konnte. Oder daß irgend etwas wieder aus dem Paradies entschwinden könnte.
Sie kletterte hoch. Es war ein mörderisches Unterfangen. Sie haßte die Mühe und nahm kein Blatt vor den Mund.
Die brennende Sonne, die einen versengte, wo sie konnte, näherte sich ihrem höchsten Stand, als sie den Gipfel erreichte. Sie lag dort, umfaßte die zweite Versteinerung und wand sie los. Mit beiden Fossilien in der geballten Faust, den wichtigsten Schlüsseln zum Tor des Einhorns, fiel sie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf, dort oben, mit dem Gesicht auf dem Felsen.
Bum, ging die Brandung, nimm unser Opfer an.
Bum. Nimm deinen Zorn von uns.
»Blödsinn«, murmelte Tanaquil im Schlaf, »ich werde nie einem von euch vergeben.«
O Geheiligtes Tier, wende deinen Zorn von uns.
»Niemals, niemals.«
Das Gestein des Klippengipfels glühte, und Tanaquil wurde geröstet. Sie rührte sich und entdeckte, was sich unten am Strand tat. So etwas hatte sie schon einmal erlebt. Eine Ansammlung von Menschen in überaus protzigen Gewändern mit viel zu viel Zierat; Pferde und Streitwagen auf der Prachtstraße unter den Palmen; Soldaten in goldenen Rüstungen. Eine Art Chor von Frauen in weißen Kleidern schwenkte Tamburine und wehklagte. Und ganz in der Nähe schien ein Mädchen mit pechschwarzem Haar und einem Kragen aus Rubinen über dem Meer zu schweben und warf Girlanden ins Wasser. Die Blumen waren Rosen, und sie würden sterben. »Hört auf damit; was für eine Verschwendung«, nuschelte Tanaquil.
»Nimm deinen Zorn von uns. Wir bedauern, was wir dir an Schmerz und Beleidigung zugefügt haben«, rief das Mädchen dem Meer zu, dem Eingang zum Bogen entgegen. Stolz schleuderte sie die letzte Girlande von sich und näherte sich der Klippe. Niemand folgte ihr. Sie zögerte vor dem Bogen und sagte ganz ruhig: »Möge Gott uns vor dem Horn des Einhorns schützen. Und möge Gott über meinem Vater, Fürst Zorander, wachen. Und über meiner verlorenen Freundin und Schwester, Tanaquil, die Dämonen entführten.«
»Lizra«, rief Tanaquil ihr leise zu. »Spring nicht. Ich lebe. Ich bin hier oben.«
Lizra hob ihr das Antlitz entgegen. Es war leer und weiß, wie unbeschriebenes Papier. Was würde darauf geschrieben werden?
»Es war ein Dämon meiner Mutter«, erklärte Tanaquil. »Er hat mich vor Gasb gerettet und mich hierhergeflogen. Das Einhorn ist nun fort. Aber ich hatte gedacht, es hätte - ich meine, dem Fürsten geht es also gut?«
Immer noch stand nichts in Lizras Gesicht geschrieben.
»Ja, mein Vater, der Fürst, ist wohlauf. Und du, Tanaquil?«
»Mir geht es ausgesprochen gut. Und dies hier sind die Fetzen deines Gewandes. Was soll ich sagen? Ich habe dir so viel zu erzählen.«
»Wir haben uns hier versammelt, um das
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