Das Mädchen und das schwarze Einhorn
hinter Lizra einhermarschierte, oder nach dem Tier, das der kleinen Gruppe an einer improvisierten Lerne folgte.
Die verrückte Truppe, die an dem Treppenabsatz aus grünem Onyx als Gegengewicht fungierte, war noch genau so, wie Tanaquil sie in Erinnerung hatte. Sollten sie von Gasbs Schicksal gehört haben, so schwelgten sie jedenfalls nicht darin. Wahrscheinlich hatte der Wahnsinn ihrer Existenz jeden Gedanken an seinen Urheber aus ihren Köpfen getilgt.
Der Stuhl fuhr hoch, und die Zugbande stampfte jauchzend die Treppe hinunter.
Vor den Wohngemächern des Fürsten nahmen die Soldaten sofort ihre gekreuzten Speere auseinander. Sie öffneten die Tür.
Tanaquil und Lizra gingen durch die Tür und das dahinterliegende Eisland. In den weißen Wüsten stolzierten keine mechanischen Schneeleoparden umher, and am Treppenkopf tauchte kein Tier auf, um sie zu erschrecken.
Lizra hielt vor der Tür inne. »Komm nicht mit herein«, sagte sie. »Wenn du an der Tür stehenbleibst, wird er dich nicht sehen.«
Die Bibliothek lag im Dunkeln, nur von einigen Lampen erhellt. Die Tür zu den Dächern war geschlossen, die Vorhänge hatte man zugezogen. In diesem Licht wirkten die Bücher alt und falsch. Nicht ein einziger Schmetterling flatterte mehr durch den Raum. Fürchtete er selbst diese jetzt?
»Lizra ... Lizra, bist du es?«
»Ja, Vater. Ich bin es.«
Tanaquil hatte ihn zunächst gar nicht bemerkt. In der dunkelsten Ecke des Raums hockte er zusammengekrümmt auf seinem eleganten Sessel. Er trug eine alte graue Robe. Sein schwarzes Haar, nun ohne Krone, schien zu jung für ihn zu sein.
»Siehst du nun?« fragte Lizra. Ihre Stimme war neutral. Hatte sie Angst, triumphierend zu klingen? »Gestern sah er vom Dach aus die beiden Männer in dem Einhornkostüm - erinnerst du dich? -, dessen Hinterteil betrunken war. Und mein Vater schrie vor Furcht. Er befahl den Soldaten, auszuziehen und das Ungeheuer zu töten. Selbstverständlich
taten sie nichts dergleichen. Die Stadt«, Lizra schlug die Augen nieder, »die Stadt schätzt mich, weil ich als einzige in der Prozession nicht weggerannt bin, als das schwarze Einhorn aus dem Meer auftauchte. Der Fürst hat sein Gesicht verloren. Hätten sie sonst wohl gewagt, Gasb anzugreifen? Mein Vater braucht mich.«
»Lizra, ich höre Flüstern. Was ist das? Ist jemand hier?«
»Nur ein Diener, Vater.«
»Lizra. Komm her, Lizra, erzähl mir, was beim Tor des Tieres geschah.«
Tanaquil antwortete schnell, leichthin. »Ich sah eine andere Welt. Was nicht fair war.
Ich hätte erst diese Welt kennenlernen sollen. Ich werde sie nun bereisen, werde sie mir ansehen. All die fernen Städte. Die Wüsten, Wälder, Berge und Seen. Das muß ich tun. Komm mit mir.«
»Lizra«, sagte der Fürst mit der Stimme eines Mannes, der zweihundert Jahre alt ist,
»du bist meine Tochter. Sei ehrlich zu mir. Hast du das Tier gesehen?«
»Nein, Vater. Das Tier ist fort. Wir sind nun in Sicherheit.«
»Wenn ich warten würde«, schlug Tanaquil vor, »ein paar Tage, eine Woche ... «
»Meine Antwort müßte doch dieselbe sein.« Lizra lächelte. Sie war mehrere Persönlichkeiten auf einmal, wie sie jetzt dort stand. Ein Mädchen, das Bedauern empfand, ein Mädchen, das eine Schwester war, eine Frau, die herrschen würde, ein Kind, das ein Kind sein wollte. Sie war verschlagen und arrogant, traurig und klug, stolz und unverrückbar, selbstsüchtig. Einsam.
Wie ich. Genau wie ich.
»Nimm dies«, sagte Lizra und löste den Rubinkragen von ihrem Nacken.
»Ich bin nicht Yilli.«
»Natürlich bist du das nicht. Ich wünschte, ich müßte dich nicht verlieren. Nimm die Juwelen. Sie werden dir Dinge verschaffen, die nützlich sind.«
»Danke«, entgegnete Tanaquil. Sie streckte die geöffnete Hand aus und ließ zu, daß die Rubine hineingelegt wurden.
Dann umarmte Lizra sie. Nicht so, wie sie das Piefel umarmt hatte, mit unkomplizierter, spontaner Zuneigung, sondern in einer eiligen, versteinerten Art, aus Angst, sie könne mehr tun. Die Abschiedsumarmung.
Und dann ging Lizra in die Bibliothek ihres Vaters, über den schimmernden, lampenerhellten Boden. Und Zorander sah auf und hielt ihr die Hand hin, die sie ergriff. »Du bist nun mein Trost«, sagte er.
Das Piefel knurrte, einweicher, sandiger Ton.
»Leb wohl«, sagte Tanaquil. Sie zog an der Leine.
Das Piefel stürzte voran, die drei Treppenfluchten hinunter. Auf dem grünen Treppenabsatz schlängelten sie sich durch Leute, die unsicher auf ihren
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