Das Maedchen und der Luegner
Tanja hatte es nicht verdient, im Unklaren gelassen zu werden. Einige Male schon hatte sie nach dem Hausherrn gefragt, denn es war nur zu verständlich, dass sie ihn kennenlernen wollte.
Er war schließlich derjenige gewesen, der ihren Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, also lag es nahe, dass sie sich auch ihm vorstellen wollte. Jedes Mal hatte Lavinia sie mit einer fadenscheinigen Ausrede abspeisen müssen, dass er gerade nicht anwesend war oder im Augenblick zu viel zu tun hatte, um sie empfangen zu können.
Jetzt jedoch nahm sich die alte Dame fest vor, noch einmal ein ernstes Wort mit Severin zu sprechen. Nein, Tanja hatte es wirklich nicht verdient, dass man sie so lange im Unklaren ließ. Es war an der Zeit, dass Severin den Irrtum richtigstellte.
Unzufrieden blickte sich Lavinia um. Ihr Herz tat weh bei der Vorstellung, dass Severin dieses liebe, unschuldige Menschenkind so belog. Und während sie noch nachdachte, wie man diese unselige Geschichte am besten aus der Welt schaffen konnte, entdeckte sie die einsame Männergestalt, die neben einem dicken alten Baum stand und Tanja ebenfalls beobachtete: Severin.
Dabei hatte er am Morgen noch gesagt, dass er zum Rennplatz fahren wollte. Wieso war er dann heimlich hier im Park?
Ein leiser Verdacht schlich sich in Lavinias Herz. Sie wußte, dass ihr Enkel ein hoch sensibler, überaus herzlicher Mensch war. Deshalb hatte sie auch nie verstehen können, wie er ausgerechnet Gloria von Borgsen zu seiner zukünftigen Frau erwählen konnte.
Langsam dämmerte es Lavinia, dass Severin auch noch einen anderen Grund hatte, seine wahre Identität zu verschweigen.
Gloria war der Meinung, dass Geld zu Geld gehörte. Eine reiche Frau konnte nur einen reichen Mann heiraten. Severin vertrat diese Meinung nicht. Ihm war es bisher immer gleichgültig gewesen, ob jemand viel besaß oder wenig. Gezählt hatte für ihn stets der Charakter; nur bei Gloria hatte er eine Ausnahme gemacht.
Plötzlich jedoch hatte Lavinia das Gefühl, dass ihr Enkel ein ganz besonderes Interesse an Tanja hatte. Doch anscheinend wußte er es selbst noch nicht einmal. Deshalb verschwand er auch hastig hinter der dicken alten Eiche, als Tanja jetzt zu Lavinia zurückkehrte.
»Herrlich ist es bei Ihnen«, jubelte sie. »Ich bin so glücklich wie seit meiner Kindheit nicht mehr.« Ihre Augen leuchteten.
Lavinia lachte zurück. »Ich bin sehr froh, dass Sie das sagen, Kindchen. Dann werden wir also zusammen bleiben?« Wieder streckte sie ihr die Hand entgegen.
Tanja nickte. Das Lachen erlosch und machte einem ernsten, fast feierlichen Gesichtsausdruc k Platz. »Ja, wir werden zusammenbleiben.«
In diesem Augenblick war eine Freundschaft geboren, eine etwas ungleiche zwar und doch eine sehr dauerhafte, die noch so manchen Stürmen würde standhalten müssen. Aber sie hatte die Chance, bestehen zu bleiben, denn sie war im Herzen geboren, in den Herzen der alten Dame Lavinia und des junge Mädchens Tanja.
***
Severin von Tarlton könnte nicht schlafen. Die ganze Nacht hatte er sich unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt, hatte immer wieder erfolglos versucht einzuschlafen und dann den Radioapparat eingeschaltet, um sich ein wenig abzulenken.
Immer wieder musste er an Tanja denken. Seit fast zwei Wochen war sie bereits auf seinem Gut, kümmerte sich vorbildlich um seine Großmutter, und Berta und Max, seine beiden Bediensteten, lobten die junge Frau in den höchsten Tönen, weil sie fröhlich und ohne zu murren mit anpackte, wo sie gerade gebraucht wurde. Sie half sogar in der Küche, wenn seine Großmutter ihr Mittagsschläfchen hielt.
Mittlerweile tat es Severin von Herzen leid, dass er sich ihr nicht als der zu erkennen gegeben hatte als der, der er wirklich war. Lavinia hatte recht gehabt. Je mehr Zeit verstrich, desto schwerer fiel es ihm, den Irrtum richtig zu stellen. Wie würde Tanja reagieren? Würde sie ihm diese Lügerei je verzeihen können?
Was soll das, du alter Narr? , schimpfte eine innere Stimme. Dieses Mädchen ist bei dir angestellt, nichts weiter. Und du machst so ein Theater um ihre Person, schlägst dir sogar die Nacht um die Ohren, obwohl es dir völlig gleichgültig sein sollte, ob sie dir verzeiht oder nicht. Wichtig ist lediglich, dass sie sich mit Lavinia versteht, und das tut sie ja offensichtlich.
Severin seufzte auf. Wie sollte das alles nur weitergehen? Konnte er einfach vor sie hintreten und sagen, wer er war?
»Nein, natürlich werde ich es ihr nicht
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