Das Mädchen und der Schwarze Tod
die Arme des Vaters und beschloss, ihn niemals wieder loszulassen, bis dieser Albtraum ein Ende hätte. Sie würde nicht zulassen, dass die finsteren Gesellen diesen Kaufmann in ihren Totentanz einreihten.
Der untersetzte Matthias Prütz fluchte bei jedem einzelnen Schritt auf der krummen Holztreppe. Er verfluchte die Sonne und die Hitze, die jegliche Bewegung zu einem unerträglichen Kraftakt werden ließen. Er verfluchte den Gestank, der das Traveufer und die Gassen der Stadt in einen Moloch verwandelte, und den Hering, der in einigen ausgelaufenen Fässern vor sich hin gammelte. Mehr als alles andere aber verfluchte er seinen Brotherren Anton Oldesloe, der ihm schon wieder den Auftrag gegeben hatte, den Bestand der alten Heringshäuser auf der anderen Uferseite der Obertrave zu überprüfen. In den schief stehenden Gebäuden wurden üblicherweise Heringe in Salzlake, mehr und mehr aber auch reines Salz gelagert, da der Handel mit Salzheringen stetig zurückging.
Er blickte aus dem offenen Fenster auf die Holzbalken, die auf der Uferseite des Hauses lagen. Sie halfen im Frühjahr beim Verladen, da das Ufer dann stets weich und morastig war. Nur jetzt, im Hochsommer, war alles knochentrocken und die tief eingesunkenen Balken dort völlig überflüssig. Matthias Prütz erinnerte sich vage, dass das Wegschaffen im Frühjahr mit zu seinen Pflichten gehört hatte. Offenbar hatte er das vergessen. Nun konnte man die dicken Balken auch gleich für den Herbst und Winter liegen lassen.
In der Nähe erklang ein dumpfes Poltern. Hoffnungsvoll wandte sich Matthias wieder den Heringshäusern zu. Vielleicht war ja jemand da, mit dem man einen Krug frischen Bieres teilen konnte? »Hallo?«, rief er. »Jemand da?« Er erhielt keine Antwort.
Nach einigen Augenblicken setzte Matthias seine Zählung fort und fluchte dabei ordentlich. Das Holz bog sich unter der Last der Fässer, die sich in den Geschossen stapelten. Schon nach kurzer Zeit war ihm seine Aufgabe zu langweilig, und er beschloss, die Kohlestriche an den Fässern von der letzten Woche zu nehmen, hier und da zu ergänzen, sodass es nach einer zweiten Zählung aussah, statt sich die ganze Mühe noch einmal zu machen.
Plötzlich schallte ein neuerliches Poltern vom obersten Speicherboden herunter, dort, wo die beiden Häuser Oldesloes miteinander verbunden waren. Matthias spähte schräg durch die Luke hoch, durch die die Seilwinde herunterbaumelte. Oben herrschte Dunkelheit. Das Seil schwang leise knarrend vor sich hin, und dem Kaufmann wurde mulmig zumute. Was mochte dort oben lauern? Er nahm seine Laterne und machte sich auf ins Obergeschoss. Er wollte ein wenig Licht hereinlassen, um die Schatten zu vertreiben.
Die Stiege gab bedenkliche Seufzer von sich, als Matthias sie belastete. Er hielt die Laterne vor und steckte den Kopf vorsichtig durch die Luke. Oben auf dem Boden war es noch finsterer als unten, wo wenigstens die Tür ein wenig Sonnenlicht hereinließ. Er erahnte die Stelle, wo die Ziehhaken, mit denen man am Kran baumelnde Fässer hereinzog, an langen Stangen neben Stemmeisen und Hämmern standen.
»Heda?«, fragte der Kaufmann, doch die muffige Stille schwieg. Also stieg er auf den vollgestellten knarrenden Boden und leuchtete hinter ein paar Fässer. Nichts. Schließlich stellte er die Laterne ab und löste den rostigen Riegel, der den Laden unterhalb des Lastkrans verschloss, mit dem man den Dachboden von der Flussseite her beladen konnte. Dann stieß Matthias die beiden fast mannshohen Läden der Luke auf, die einen weiten Blick vom Giebel des Heringshauses auf Lübeck mit Sankt Peter und zur nahen Holstenbrücke gewährte. Dort sah er das alltägliche Treiben in die Stadt hinein und aus der Stadt hinaus, das seit Ausbruch der Pest von einem stetigen Strom zu einem Tröpfeln versiegt war. Er verengte die Augen zu Schlitzen. Stand dort auf der Brücke die bullige Gestalt seines Herrn, Anton Oldesloe, mit einem zweiten Mann?
Insgesamt stellte Matthias beruhigt fest, dass der Boden bei Tageslicht betrachtet gleich weniger erschreckend wirkte als eben noch bei Dunkelheit, und beschloss, seine Zählung doch ein wenig sorg fältiger durchzuführen, wenn der Herr nahte. Sicher hatte bloß eine Katze ein paar Mäuse gejagt. »Waschweib«, lachte Matthias über sich selbst und drehte sich um.
Er schrak zurück, als er hinter sich einen kleinen, schmalen Mann im Ornat eines Priesters mit Kapuze sah. Der Stoff hing an einem Holzsplitter und hielt den
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