Das Mädchen und der Schwarze Tod
wieder an den Rand der Tränen.
Marike hatte eine schlimme Befürchtung. Sie strich ihm sanft über das rote Haar. »Dein Vater wird gar nicht schimpfen, oder? Wegen der Flasche, meine ich.« Der Junge nickte.
»Er ist auch gar nicht verletzt, oder?«
Erst war ein Kopfschütteln die Antwort. »Er war krank. Jetzt ist er im Himmel«, murmelte der Junge dann und begann wieder leise zu weinen.
»Hast du denn sonst noch jemanden?«
Felix schüttelte erneut den Kopf. Er sah elend aus. »Meine Mutter ist weg. Sie sagt, sie will nicht sehen, wie ich auch krank werde. Muss ich jetzt sterben?«
»Aber nein. Das weiß deine Mutter gar nicht.«
Der Kleine schniefte unglücklich. »Wer weiß das dann?«
»Das weiß nur der Herrgott, Felix«, erwiderte Marike zärtlich. »Weine erst einmal tüchtig. Das tut gut.«
»Aber mein Vater hat gesagt, ich soll nicht weinen, ein Mann tut das nicht. Aber ich muss doch immer weinen!« Und wie zur Bestätigung kullerten dicke Tränen aus seinen Augen.
Wie vielen Kindern erging es dieser Tage noch wie diesem Burschen? Marike versuchte für ihn zu lächeln. »Bist du denn einer?«, fragte sie leise. Der Junge sah sie durch seine Tränen an. »Ein Mann, meine ich. Ich glaube nämlich, dass Jungen schon weinen dürfen. Also machst du gar nichts falsch.«
Als der Kleine nickte, da gehorchte Marike einem Impuls und nahm ihn in den Arm. Der Junge klammerte sich fest an sie. Doch sie störte es nicht. Sie umschloss Felix mit den Armen, stand auf und kehrte auf die Straße zurück, wo Frederik bereits ungeduldig wartete.
»Kein Wort!«, flüsterte Marike und machte eine abwehrende Geste mit der freien Hand. Dann ging sie nach Hause. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, was der Vater sagen würde. Sie wusste, er würde sie verstehen. Immerhin hatte er ja auch den alten Willem in den Wohnkeller gelassen, obwohl der außer einem Pfennig hier und da keine Miete zahlen konnte. Vielleicht könnte Felix sogar bei dem Alten wohnen und ihm zur Hand gehen.
»Ich hab dich«, murmelte sie zärtlich. »Ich hab dich.« Tatsächlich aber drückte Marike den kleinen Jungenkörper mindestens so eng an sich wie umgekehrt. Sie konnte ihn nicht allein lassen. Sie wusste, sie konnte nicht jedem in Lübeck helfen. Und sie konnte Lyseke nicht mehr helfen. Doch diesem armen Buben würde sie Hunger, Einsamkeit und Verzweiflung nehmen, egal, was andere Leute sagten. Niemand sollte in diesen Zeiten einsam sein. Auch wenn Lyseke vielleicht recht hatte, dass jeder Mensch allein sterben musste – im Leben konnte man füreinander da sein.
DER KÜSTER
»Viel werte Seele, halt dich wert«, summte der feiste Küster Krontorp ohne erkennbare Melodie, während er in der Glockenstube das Seil der alten Pulsglocke fahren ließ. Er hatte gerade zur Sixt geläutet, und so piepte in seinen Ohren noch immer ein schriller, hoher Ton. Durch seinen Beruf hörte er seit Jahren nicht mehr besonders gut. Das hatte auch seine Vorteile. Er ignorierte das Gekreische seiner Frau und der Kinder, wann immer er wollte. Er konnte so tun, als hörte er das Gedrängel der Priester und der Gemeinde nicht, wenn mal wieder alle anderen Kirchenglocken eher läuteten als Sankt Marien. Und er musste nicht hören, wie schief und krumm er eigentlich sang, obwohl er die Melodie des Liedes doch so genau im Ohr hatte.
Krontorp summte weiter und sah hoch in die Helmpyramide des Glockenturmes, als eine Bö den hohen Süderturm kurz erbeben ließ.
Hier oben, immerhin vier sehr hohe Geschosse und damit mehr als einhundert Ellen über dem Erdboden, schien immer ein wenig mehr Wind zu wehen, als man tatsächlich unten auf den Straßen spürte. Er war froh, bereits einen Besuch im Ratskeller hinter sich zu haben. Früher hätte ihn das Schwanken in helle Panik versetzt. Überhaupt verfluchte Krontorp den Erbauer dieses Mauerwerks regelmäßig dafür, dass er offenbar nur an höhenfeste und schlanke Leute gedacht hatte. Anfangs war ihm bei der Höhe des Umlaufs über den Arkaden der Kirchenhalle eben so mulmig geworden wie bei der Enge mancher Treppen. Zu Beginn seines Dienstes hatte er sich vor jedem Geläut tüchtig Branntwein in den Schlund gekippt, um sich den rechten Mut anzutrinken. Mit der Zeit war der Brannt dem Starkbier gewichen, und so war die panische Angst vor Höhen und Enge über die Jahre verblasst.
Krontorp hörte zwar nicht mehr richtig, riechen konnte er aber trotzdem noch recht gut, und er fand, dass es hier oben trotz des Luftzugs
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