Das Mädchen und der Schwarze Tod
ja auch eine Reihe guter Vorlagen gehabt hatte. Er wusste nicht, welcher Teufel ihn ritt, doch er konnte nicht aufhören, die Gesichter der Toten weiter in den Totentanz hineinzumalen. Ein Teil von ihm wusste, dass er damit aufhören sollte. Wollte Oldesloe genau das? Und doch konnte Notke nicht anders. Den Maler schauderte. Vielleicht würde er bald einen Jüngling hineinmalen, der von seiner Hand gestorben war.
Inzwischen war das Bild in einem Zustand, den man der Gemeinde präsentieren konnte, und die Anbringung an der Wand stand kurz bevor. Das Einzige, was nun noch fehlte, waren die Verse, die auf das Spruchband unter den Tanzenden geschrieben werden sollten. Sie waren noch nicht einmal gedichtet. Bei den Arbeiten half nicht, dass Sievert, sein junger Knecht, noch das Bier der gestrigen Nacht ausspie und völlig unfähig war, sich von seinem Lager zu erheben. Seine anderen Knechte waren nicht so geschickt wie Sievert, wenn es darum ging, die Spannung der Leinwände zu überprüfen und die Rahmen sorgfältig über das Beichtgestühl an die Wand zu nageln. Doch es gab kein Gedeutel – bis morgen Nacht musste der Totentanz hängen, damit die Kapelle übermorgen geweiht werden konnte.
Da die Gehilfen – alle stets mit duftenden Tüchern gegen den Pesthauch geschützt – noch dabei waren, das Gerüst aufzustellen, hatte Notke gerade nichts zu tun. Also war er heute Morgen, statt die Arbeiten in der Marienkirche zu überwachen, direkt zu Sankt Peter gegangen. In der Stadt verbreiteten sich Gerüchte von einem jüngsten Todesfall im Schatten der Kirche, denen er nachgehen wollte. Er wusste selbst nicht genau, warum er gekommen war – ob er nur glotzen wollte, ob er sein schlechtes Gewissen befriedigen wollte, oder ob er gar sehen wollte, wie Oldesloe die Menschen aus dem Weg räumte … Er eilte an der hoch über ihm aufragenden Bruchsteinmauer entlang, die den Kirchhof von Sankt Peter gegen die viel tiefer liegende Straße darunter abstützte, und atmete tief durch. Dann schloss er sich der Menge an, die sich hier an der Ecke zur Kleinen Petersgrube gebildet hatte.
Trotz der Pest hatte die Neugier eine kleine Menge vermummter Menschen herbeigetrieben. Sie hielten jedoch respektvollen Abstand zum Pestkarren, auf dem sich die Leichen bereits stapelten. Notke konnte nicht den Blick davon abwenden, denn so grausig der Anblick auch war, es ging von ihm dennoch eine gewisse Faszination aus. Was dort lag, waren einmal lebendige Menschen gewesen. Nun wurden ihre sterblichen Überbleibsel wie Abfall aus den Straßen gekehrt. Arme und Köpfe der Leichen baumelten schlaff über den Rand des Karrens, als nickten oder winkten sie den Lebenden zu. Gleichzeitig waren so viele Gliedmaßen ineinander verhakt, dass man nicht erkennen konnte, welche nun zu welchem Körper gehörten. Meist waren die Leiber noch vollständig bekleidet, denn man sagte ja, dass auch die Kleider die Pest in sich trugen. Anhand der Gewänder und Frisuren konnte man erkennen, dass es sich bei den Toten um Angehörige der verschiedensten Stände handelte, die dort zusammen auf einem Pestkarren lagen. Ob reich oder arm, jung oder alt, schön oder hässlich war völlig bedeutungslos. Sie wurden alle in dieselbe Grube draußen bei der Kapelle Sankt Gertruds geworfen, denn für einzelne Gräber war die Masse der Toten längst zu groß geworden.
Doch Notke drängte sich nach vorn und versuchte, einen Blick auf den Toten zu erhaschen, der im Zentrum der Aufmerksamkeit lag. Der Maler hatte Glück, denn man hatte noch nicht gewagt, den Leichnam zu berühren. Einer der beiden Pestfahrer untersuchte ihn mit spitzem Stock auf Beulen und andere Anzeichen.
»Nö«, sagte er nun durch sein Tuch vor dem Gesicht. »Keine Beulen.«
»Was machen wir dann mit dem?«, fragte sein junger Gehilfe, ein gedrungener Wende.
»Ja, was wohl – wegschaffen.«
»Müssen wir nicht auf den Fron warten?«
»Ja, was – der Schollenbrecher hat zu viel gesoffen und ist von der Mauer gekippt. Warum sollen wir da auf’n Fron warten?«
»Tja.« Damit war die Sache für die Pestfahrer erledigt.
Doch Notke war misstrauischer. Er vermutete, dass der letzte Tote, den der Reigen in seinem Totentanz abbildete, der Handwerker gewesen war. Der arme Zimmermann war oben bei Sankt Katharinen in seiner Werkstatt verbrannt. Das Feuer hatte den ganzen Fachwerkgang vernichtet, war aber nicht weiter übergesprungen. Notke hatte diese Todesart verwundert. Die Bruderschaft des heiligen Blasius war
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