Das Mädchen und der Schwarze Tod
stolperte und sich nur mit Mühe fangen konnte. Kaum stand sie aufrecht, fühlte sie sich gepackt, herumgerissen und an die Wand gedrückt. Eine Pranke lag an ihrem Hals. »Jetzt hat dieser Zirkus ein Ende!«, knurrte Oldesloe finster. »Du hast mir wahrhaftig genug Ärger bereitet!«
Marike wand sich in seinem Griff, der ihr langsam die Luft abschnürte. Sie trat, kratzte und boxte mit dem Ellbogen. Doch der Mann blieb unbeeindruckt von ihren verzweifelten Attacken. Schon tanzten dunkle Punkte vor ihren Augen, als ihr ein Umstand zugutekam: die verletzte Hand Oldesloes. Marike rutschte dank des frischen und glitschigen Blutes aus seinem Griff. Mit ein wenig Glück würde sie ihm unter dem Arm wegtauchen und zur Tür rennen können, wo das Messer auf dem Boden lag. Doch er griff nach.
»Mach schon mal alles für deinen Vater bereit. Er wird dir bald folgen!« Der Mann würgte sie jetzt mit beiden Händen.
Von einem Moment auf den anderen lockerte sich Oldesloes Griff plötzlich. Sein Gesicht verlor ganz die Farbe. Dann sackte er vor Marike auf die Knie. Hinter ihm stand Lyseke, so bleich wie ein Engel des Todes. In ihrer Hand hielt sie ein blutiges Messer. »Mein Gunther«, flüsterte die Kranke mit den offenen Pestbeulen. »Du hast meinen Gunther erschlagen!« Sie war so wackelig auf den Beinen, dass Marike sie am liebsten stützen wollte.
»Lyseke …«, flüsterte der Vater. »Mein Kind …« Sein Blut pulsierte von einer Wunde im Rücken in Strömen auf die Holzdielen. Der Mann drehte sich ungelenk herum, kippte gegen die Mauer und sank daran herab.
Marike war stocksteif vor Entsetzen. »Geh«, stöhnte Lyseke. Die Ältere taumelte ein, zwei Schritte zurück. Sie starrte auf Vater und Tochter und begriff langsam, dass sie selbst gerade mit dem Messer auf einen Menschen eingestochen hatte. Und wie knapp sie dem Tode entronnen war. Und dass Lyseke gerade für sie den eigenen Vater geopfert hatte.
»Geh«, hauchte die ein zweites Mal.
Marike zitterte am ganzen Leib. »Liebes, liebes Schwesterchen«, flüsterte sie erstickt. Sie wollte noch so viel sagen, wollte sich bedanken, wollte all das Leid von der Freundin nehmen. Doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sie konnte nichts mehr für Lyseke tun. Sie würde die Liebe für sie in ihrem Inneren verschließen und Lysekes Andenken stets im Gebet bewahren. »Leb wohl«, hauchte Marike. Sie machte einen Schritt zurück, und schließlich einen weiteren. Die Augen blieben fest auf Oldesloe geheftet. Dieser kalte, böse Mann hatte endlich bekommen, was er verdiente. Er hatte wohl auch Pater Martin selbst getötet. Hatte nun endlich die Gerechtigkeit gesiegt? Sie dachte, sie würde sich nun besser fühlen. Doch das tat sie nicht.
Marike konnte all das Sterben nicht mehr ertragen. Sie stand auf dem Speicher, in Gefühllosigkeit erstarrt. Sie warf einen letzten Blick zurück. Oldesloe war an der Wand zusammengesunken und röchelte grässlich. Die Freundin ließ sich kraftlos neben ihm nieder und schmiegte sich wie ein kleines Kind in seinen Schoß. Vater und Tochter waren wieder vereint.
Marike taumelte aus dem Haus. Sie ging wie eine Nachtwandlerin durch die Straßen zurück nach Hause. Langsam, mit jedem Schritt, den sie ihrem Vater näher kam, wartete sie darauf, dass die Taubheit in ihrem Innern verschwand und das Gefühl zurückkehrte. Erst als sie an Sankt Marien vorbei war, fiel ihr auf, dass sie eigentlich weinen sollte. Doch weinen konnte sie nicht mehr.
Wie im Schlaf kehrte Marike heim zu ihrem Vater. Sie nahm ihn beiseite und erzählte ihm alles. Sie berichtete von der Nacht im Rovershagen, von dem Flötenspieler, der sie bedroht hatte, von Anton Oldesloe, seiner Bruderschaft und Bernt Lynow, der dort die Schergen angeworben hatte. Sie berichtete davon, dass sie herausgefunden hatte, Oldesloe führe etwas gegen ihn, ihren Vater, im Schilde, und dass sich dann die Drohung des Flötenspielers bewahrheitet hätte, dass nämlich einer nach dem anderen gestorben sei. Sie berichtete von Lyseke und ihrer Krankheit, von Bernt Notke und seinem Totentanz, und schließlich davon, dass das Töten nun, mit dem armen alten Willem, endlich sein Ende gefunden hatte. Das Einzige, was sie verschwieg, waren ihre Gefühle für den Maler.
»Mein armes Mädchen«, sprach Pertzeval endlich nach langem Schweigen. Dann zog er sie an sich und umarmte sie mit unsanftem Husten. Doch Marike löste sich wieder von ihm, denn sie konnte die Zärtlichkeit nicht ertragen. Sie würde eine
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