Das Mädchen und der Schwarze Tod
geben. Man sollte meinen, man verdient sein Gold am besten auf dem Marktplatz von Lübeck. Weit gefehlt! Am meisten kriegt man von den armen Leuten, denn die können noch richtig feiern. Ihr Bürgersleut’ wisst doch kaum, wie das geht.«
Nun kroch in Marike der Ärger hoch. »Natürlich wissen wir, wie man feiert. Nur bei uns geht es dabei sittsamer zu!«
»Man kann nicht sittsam feiern, Honigmäulchen«, lächelte die Fiedlerin hintergründig. »Komm doch morgen Nacht in den Rovershagen, dann wirst du schon sehen!«
»Benimm dich gefälligst!«, fauchte Lyseke unwirsch. Doch Marike ignorierte die Freundin und starrte die Fahrende an. »Was ist morgen im Rovershagen?« Der Rovershagen war einer jener schmalen Gänge von schmuddeligen Holz- und Fachwerkhäusern, von denen es auf der Landinsel Lübecks so viele gab. Sie füllten kreuz und quer die Hinterhöfe der respektableren Wohnhäuser und beherbergten ärmere Handwerker, Matrosen und Lastträger mit ihren Familien.
»Ein Fest. Akrobaten, Tanz, Schauspiel. Verruchter, als ihr kleinen Püppchen es euch ausmalen könnt!«
»Dann werden wir dort sicher nicht hinkommen«, meinte Marike bestimmt. Das war undenkbar für eine respektable Jungfrau. Ihren Vater würde der Schlag treffen, und Anton Oldesloe legte stets viel Wert auf den Ruf seiner Tochter.
»Und feige seid ihr auch noch«, grinste die Schaustellerin.
Marike suchte ärgerlich nach einer Erwiderung, doch in diesem Augenblick schlug die Glocke der Marienkirche ein Uhr mittags. Eine Welle der Anspannung ging spürbar durch die Menge. Man wandte sich der Ratslaube zu. Von ferne fielen die Glocken vom Dom und den anderen Kirchen mit ein, während die Klöster länger und ausgiebiger zur Mittagshore riefen. Die Töne verwoben sich über der Stadt zu einem klangvollen stolzen Teppich.
»Es geht gleich los!«, rief Lyseke und ergriff Marikes Rechte, um sich mit ihr durch die Menge zu drängeln. Doch die Fiedlerin fasste schnell nach Marikes Linker und hielt sie fest. »Der Pfeifer lädt dich ein. Du musst in den Rovershagen kommen!« Sie wies mit dem Kopf auf den Pranger, wo der hagere Kerl mit den unheimlichen Augen zu ihnen herübersah. Marike fiel auf, dass er seinen Knebel gar nicht mehr trug.
Verwirrt sah sie zu der Fiedlerin zurück, deren Vogelaugen sich eindringlich in die ihren bohrten. »Ich … ich denke nicht daran!«, stieß Marike hervor. Was war nur in diese Leute gefahren? Hatte ihr Herr Vater recht, und sie waren des Teufels Fußvolk, gesandt, um sie zu versuchen?
»Marike! Komm schon!« Die beiden Mädchen schoben sich die letzten paar Dutzend Ellen durch die Menge, hinüber zum Eingang des Rathauses. Als sie durch die Tür schlüpften, begann das Bimmeln der kleinen Glocke an der Ratslaube. Sie rafften die weiten Röcke und rannten die Treppe hinauf. Ihre Mägde folgten. Doch Marike spürte den Griff der Fiedlerin noch lange an ihrem Handgelenk.
In der Ratslaube hatten sich bereits die Bürgermeister und Ratsherren mit ihren Frauen versammelt. Von hier aus wurden die Beschlüsse des Rates über den Marktplatz verkündet, seien es Marktverordnungen, Gesetze oder Gerichtsurteile. Beinahe alle Ratsherren waren eingetroffen. Ein schneller Blick zeigte, dass nur Bürgermeister Wilhelm von Calven sowie Frau und Tochter Catharine noch fehlten.
Lyseke und Marike steuerten auf ihre Väter zu. Johannes Pertzeval stand begleitet von Pater Martin neben Anton Oldesloe, seinem Kompagnon und Freund. Die Väter erwarteten ihre Töchter bereits. Lysekes Vater war ein sicher an die fünfzig Jahre alter, bullig wirkender Mann mit Halbglatze, rotblondem Haar und stets rot leuchtenden Wangen. Er strahlte und breitete die Arme aus, als wolle er die Welt umarmen. Die knielange Houppelande mit geschlitzten Ärmeln und Pelzkragen ließ ihn noch größer und breiter wirken, als der beachtliche Berg aus Muskeln und Fett ohnehin schon war.
»Mädchen!«, lachte er gut gelaunt. »Wie immer nicht zu früh und nicht zu spät!« Marike grüßte freundlich.
Sie erstarrte, als sich Meister Lynow aus Oldesloes Schatten schälte. Der Schmied war glatzköpfig und gedrungen, doch sehr muskulös. Auch er schwitzte beständig und hatte bereits einen Bauch – er war ja auch schon über vierzig, wie Marike sich erinnerte. Lynow stierte sie an, länger und anzüglicher als üblich und angemessen. Marike senkte den Blick.
»Habt Ihr Eurer Tochter meinen Vorschlag unterbreitet, Pertzeval?«, fragte Lynow eine Spur zu
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