Das Mädchen und der Schwarze Tod
ganze Zeit zur Ratslaube hochstarrte. Was interessierte ihn? Der Kerl begann, ihr Angst einzuflößen. Sie war froh, ihren Vater hinter sich zu wissen.
Lyseke ließ die Locke von ihrem Finger aufspringen. »Das ist gar nicht wahr!«, schalt sie Marike. »Lübeck ist nicht wie jede andere Stadt. Wir sind sicher frommer und gläubiger als anderswo, und wir haben mehr Kirchen und spenden mehr Geld! Und hier tun sich gute, gläubige Menschen wie unsere Väter zusammen. Gemeinsam ist man stärker. Und hat auch mehr Geld, wenn nichts dazwischenkommt.«
»So wie die Pest?«, meinte Marike sorgenvoll. »Gegen den Schwarzen Tod helfen auch Geld und Hanse nicht.« Sie erschauderte. »Vor einhundert Jahren soll sie vom Reich der Türken bis zu den Muselmanen in Hispanien alle Länder entvölkert haben.«
»Das waren sündige, raue Zeiten, Marike! Das kannst du doch nicht mit heute vergleichen!«
Die Kaufmannstochter dachte darüber nach und wog den Kopf abschätzend hin und her. »Ach, ich weiß nicht. Muss denn jeder, der an der Pest stirbt, gleich ein Sünder sein?« Sie dachte an ihre Mutter zurück, von der jeder behauptete, sie habe ihrer Namenspatronin, der heiligen Elisabeth, alle Ehre gemacht.
»Sch!«, machte da eine rundliche Kaufmannsfrau, denn Bürgermeister von Calven und seine Familie waren soeben eingetreten. Der charismatische große Mann in der Robe seines Amtes trat mit kühlem Gesichtsausdruck in die Mitte der Ratslaube zu den anderen drei Bürgermeistern. Seine Frau und die letzte noch unverheiratete Tochter Catharine trugen beide dunkle Farben und schlichte, geschlossene Kleider. Das Mädchen hatte ein vor Hitze gerötetes Gesicht.
Die Ratslaube war inzwischen völlig überfüllt. Schließlich läutete der Ausrufer die Ratsglocke zum dritten Mal. Es dauerte eine Weile, bis die vielen hundert Menschen auf dem Marktplatz verstummt waren und ihre Gesichter dem Rathaus zugewendet hatten. Die spielerische Jahrmarktsatmosphäre, die da unten noch vor Kurzem geherrscht hatte, war inzwischen einer unruhigen Anspannung gewichen.
»Bürger und Bewohner Lübecks!«, begann der Ausrufer mit kraftvoller Stimme und geübtem Rednerton. »Der Rat der Hansestadt Lübeck hat am gestrigen Tag, dem 31. Tag des Julimonats im Jahre 1465, zusammengefunden und folgende Beschlüsse gefasst.« Es wurde ganz still auf dem Markt.
»Die Nonnen des Augustiner-Ordens haben beim Rat um eine Stiftung in Lübecks Mauern gebeten. Der Rat stimmt dieser Stiftung zu und wird nach einem geeigneten Grund für ein Kloster suchen, das der heiligen Anna geweiht werden soll.« Es folgte eine kurze Pause, in der der Ausrufer auf Reaktionen wartete. Ihm begegnete Schweigen, was Zustimmung – oder Desinteresse – der Bürger signalisierte.
»Für den Bau der neuen Befestigungsanlage am Holstentor werden weitere Gelder benötigt. Der Rat ruft aufrechte Bürger dazu auf, dem Unterfangen von Baumeister Hinrich Helmstede Spenden zu überlassen.« Wieder war Schweigen die Antwort, an einigen Stellen kam jedoch Gelächter auf. Der Torbau, eine gemeinsame Leidenschaft von diversen Ratsleuten wie etwa Johannes Pertzeval und Anton Oldesloe, war lange diskutiert und im letzten Jahr endlich begonnen worden, doch weiter als bis zu den Vorbereitungen für das Fundament war man bislang nicht gekommen. Dass bereits jetzt das Geld knapp wurde, ließ die Menschen zweifeln, ob die Befestigungsanlage tatsächlich jemals fertiggestellt werden würde.
»In der Straße der Fleischhauer sehe man sich vor. Das Pflaster ist aufgerissen und die Wasserleitungen unter der Erde sind freigelegt worden, um Reparaturen durchzuführen. Also Obacht! Ganz gesperrt ist hingegen die Beichtkapelle in Sankt Marien, der Zugang ist nur den Handwerkern um Bernt Notke gewährt. Die Priesterschaft nimmt die Beichten in der Schläferkapelle ab.« Marike linste bei diesen Worten zu Bernt Notke hinüber. Wenn sie ihn so betrachtete, sah er gar nicht aus, wie sie sich jemanden vorstellte, der springende Leichen abbildete. Sicher, er wirkte anders – vielleicht nicht so sorglos wie viele Männer seines Alters, und aufgeweckter. Dann trafen sich ihre Blicke, und Notke lächelte. Marike senkte die Lider, doch in ihrem Magen flatterte es. Wie freute sie sich auf den Nachmittag!
Der Ausrufer fuhr fort und kam zum Wesentlichen. »Im Angesicht der Pest, von der im Umland immer wieder berichtet wird, hat der Rat der Hansestadt Lübeck zur Vorsicht folgende Maßnahmen erlassen. Ein jeder Mann
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