Das Mädchen und der Schwarze Tod
tanzen oder ihnen zuschauen dürfen. Jetzt sind unsere Seelen besudelt, und das ist die Strafe. Du bist schuld.«
Wie sollte Marike dem widersprechen? Die Freundin hatte nicht einmal die Drohung des Flötenspielers gehört, noch dieses schreckliche Zeichen auf seiner Brust gesehen.
Dann wandte Lyseke endlich den Kopf und starrte Marike mit leeren Augen an. »Warum mussten wir dahin gehen, Marike? Hat es sich wenigstens gelohnt? Vermutlich ist das Ganze bloß wieder eines von deinen verdammten Hirngespinsten gewesen!« Sie schloss die schmerzerfüllten Augen. »Gunther wäre ohne dich noch am Leben.«
Darauf konnte Marike keine Antwort geben. Sie hatte sehr wohl etwas herausgefunden: Lynow war im Bund mit Teufelsanbetern, oder was immer dieser Flötenspieler sein mochte. Vielleicht hatte dem Mann eine Drohung nicht gereicht, vielleicht machte er sie bereits wahr? Er hatte gesagt, dass Menschen sterben würden, möglicherweise Menschen, die ihr nahestanden. Wenn das ein Fluch gewesen war – wen würde er als Nächstes treffen? Marike streckte eine zitternde Hand aus, um die der Freundin zu ergreifen. »Weiß man, wann das passiert ist?«
Lyseke reagierte kaum. Dann schüttelte sie den Kopf. »Gestern Nacht irgendwann …«
Marike nickte. In der Nacht. Nicht am Morgen. Also musste Gunther ungefähr um die Zeit gestorben sein, als Lyseke und sie von dem Fest nach Hause gegangen waren. Würde der Pfeifer seine Drohung so unversehens wahr gemacht und es dann doch wie einen Unfall aussehen haben lassen? Entweder war der Mann sehr grausam, oder etwas stimmte da nicht.
»Lyseke, du ruhst dich besser aus«, wies sie die Freundin an. Dann legte sie sich ihre Worte vorsichtig zurecht. »Ich werde versuchen herauszufinden, was mit Herrn Gunther passiert ist. Und dann komme ich wieder und werd’s dir erzählen, ja?« Die Freundin sah sie an, die Augen immer noch stumpf und hohl.
»Lyseke, verstehst du mich? Ich find’s heraus!« Jetzt blinzelte die Angesprochene und nickte langsam.
»Gut. Und jetzt hole ich dir noch ein Glas Branntwein. Du siehst ja aus wie der Tod.«
Marike erhob sich, schob den Bierkrug näher an Lyseke heran, damit sie etwas trinken konnte, und trat aus der Kemenate. Draußen in der Diele warteten Alheyd und Alberte mit betretenen Gesichtern. Marike eilte stumm zur Dornse und öffnete die Tür. Dahinter erwartete sie ein gänzlich anderes Bild, als sie es von zu Hause gewohnt war. Wo Johannes Pertzeval eine aufgeräumte und schlichte Schreibkammer eingerichtet hatte, besaß Anton Oldesloe einen mit venezianischer Seide und kostbaren Holztäfelungen ausgestatteten Raum, der an Prunk kaum zu überbieten war. Dieser verblasste jedoch unter dem Chaos aus Pergament- und Papierbögen, Rechenteppich und -schieber, einer Feinwaage mit Gewichten, duftenden Gewürzbeuteln, einer grob geschnitzten hölzernen Kogge, die so lang war wie Marikes Oberschenkel, Truhen und Seitschränken, die mit Pergamentrollen und gebundenen Rechnungsbüchern vollgestopft waren.
Schnell suchte Marike Pertzeval sich ihren Weg durch das oldesloesche Heiligtum hinüber zum Seitschrank, auf dem ein Medizinfläschchen und kurze Gläser mit aufgelegten blauen Schlangen standen. Sie zog den Stopfen aus der Flasche, schnupperte kurz daran, um zu prüfen, ob es sich dabei tatsächlich um den Apothekerbrannt von Meister Linneweber handelte, und füllte dann einen großen, guten Schluck in eines der Gläser. Als sie den staubigen Rand des Glases sah, schaute sie sich nach einem Leinentuch um, das man zum Abputzen verwenden konnte, doch sie fand keines. Sie wollte sich schon abwenden, da sah sie eine Holztafel aus einem Stapel Papier herauslugen. Neugierig trat sie näher und schob die Dokumente beiseite.
Darunter kam ein hölzernes Buch zum Vorschein, dessen Tafeln schon ganz schwarz von den Jahren waren. Wie bei zusammengebundenen Wachstafelbüchern üblich, wies es an der oberen langen Seite Löcher auf, durch die es mit festen Stricken gebunden war, sodass man eine Tafel über die andere hochklappen konnte. Zumindest vermutete Marike, dass die Löcher oben waren, denn sie erkannte die Art der Schrift, die in das Holz geritzt war, nicht einmal im Ansatz. Manche Zeichen wirkten ganz ähnlich den lateinischen Buchstaben, etwa wie ein A, ein S oder ein B. Andere, wie ein Dreieck, ein gezackter Blitz oder ein umgedrehtes Y oder N, gemahnten eher an Zeichen oder Zerrbilder von Buchstaben. War dies eine Geheimschrift? Ein satanisches Buch?
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