Das Mädchen und der Schwarze Tod
Straße zum stinkenden Fluss hinunterschlidderte, nahm er sich vor, nur einen Krug Starkbier zu trinken, oder zwei, und darauf zu achten, dass kein Unfriede herrsche in seinem Haus. Doch jedes Mal wusste der Domherr tief in seinem Innersten, dass er der vollbrüstigen Marthen kaum würde widerstehen können. Und wenn es nicht Marthen war, dann Karla, die Neue, oder eine von den dunklen wendischen Huren, die es trieben wie die Hunde. Merkwürdig war nur, dass – ganz abgesehen von den körperlichen Genüssen – ihn das Sündigen sogar auf geistiger Ebene erfreute.
Paulus horchte seit mehr als zwei Dutzend Jahren auf die Stimme des Herrn. Anfangs war er voller Glauben gewesen, voller Begeisterung und voller Stärke. Die Jahre des unbeantworteten Gebetes jedoch hatten den Gottesdienst zur Gewohnheit werden lassen. Der Glaube war verblichen, die Begeisterung gestorben und die Stärke – die Stärke hatte sich in einen grimmigen Trotz verwandelt. Manchmal fragte er sich, wie viele Sünden nötig wären, damit der Herrgott sich ihm offenbarte – und sei es nur, um ihn in die heißesten Feuer der Hölle zu verdammen. Bislang kannte der Herr noch keine Grenze. Dabei hatte Paulus sich wirklich bemüht, alles bisher Dagewesene zu übertreffen.
Doch Paulus wusste, dass dieser sehr metaphysische Grund nicht der einzige war, der ihn zu seinen Sünden trieb. Er beging sie, weil er dazu in der Lage war. Es bereitete ihm ein innigliches Vergnügen, das zu wagen, wovor viele andere zurückscheuten. Er hatte Grenzen überschritten, die kaum ein anderer aus dem Domkapitel zu übertreten wagte. Begonnen hatte es mit einer jungen Hure, die so mager gewesen war wie ein abgenagter Knochen. Nach einigen Wochen der Besuche bei ihr, in denen er jeden Morgen im Gebet stets mit klopfendem Herz darauf gewartet hatte, dass ihn der Boden verschlingen oder der Blitz erschlagen würde, war er ihrer überdrüssig geworden, und er probierte andere aus. Irgendwann konnte er sich nicht entscheiden, und er nahm mehrere, erst zwei, dann drei. Schließlich probierte er die Stumme Sünde mit einem Knaben, fand das jedoch nicht so recht nach seinem Geschmack – eine Notlösung, was ihn betraf. Doch Paulus machte auch dort nicht halt. In jedem Gebet sah er mehr auf seine Brüder herab, die sich sklavisch an die Gesetze des Herrn Jesus Christus hielten und die Sünden, die er beging, mit lüsterner Faszination betrachteten. Und in jedem Gebet fragte er sich wieder und wieder, warum Gott schwieg und einen Mann wie ihn in seinem Haus duldete, ohne ihn zu strafen, ja ohne eine einzige Reaktion zu zeigen.
Sagte nicht Moses, dass jener, der den Namen des Herrn nicht fürchtete, mit schrecklichen und anhaltenden Plagen geschlagen würde, gar mit bösen Krankheiten? Dies war eine der liebsten Predigten des Bischofs Arnold gewesen, der die letzte Pest miterlebt und stets gejammert hatte, wie schlimm es Lübeck damals gebeutelt hatte. Doch Paulus war nicht mit Krankheiten geschlagen worden, im Gegenteil erfreute er sich bester Gesundheit. Sicher, ab und an holte er sich ein paar Sackläuse bei den Huren, doch das zählte wohl kaum.
Dieses Ausbleiben von schlimmen Folgen öffnete ein Fass ohne Boden. Wenn diese eine biblische Aussage nicht stimmte – wie sollte man da noch wissen, welche Bibelstellen der Wahrheit entsprachen und welche nicht? Paulus wusste es nicht, doch seit er sich in der Sünde weidete, keimte in ihm ein schrecklicher Verdacht. Gott hatte sich von den Menschen abgewandt, und alles, was die sich nun auf der Erde gegenseitig antaten, war eine selbst geschaffene Hölle. Und unter dieser Prämisse war Paulus lieber Dämon als Heiliger.
Der Pater war nun beinahe bei seinem kleinen Häuschen kurz vor dem schmalen Eingang zum Grützmacherhof angekommen, da hörte er klappernde Schritte im Dreck der Straße hinter sich. Abrupt blieb er stehen, während sich ihm alle Nackenhaare aufstellten. In dieser Gegend gab es viel Gelichter, das einem schon für weniger an den Kragen ging, als Paulus am Leibe trug. Dabei war er doch beinahe zu Hause! Ganz abgesehen davon, dass ihn sein Schwanz schon wieder juckte.
Ob ihm diese Begine auf den Fersen war? Sie hatte ihn im Dom aufgesucht und gefragt, ob er eine Badermagd namens Karla Seildreher gesehen hätte. Natürlich hatte er, gestern Nacht nämlich und hauptsächlich von hinten. Bei diesem Mädchen stieß er am liebsten die Rückpforte auf. Aber das hatte er der hoffärtigen Frau aus Ilhorns Stift nicht
Weitere Kostenlose Bücher