Das Mädchen und der Schwarze Tod
auf die Straße.
Auf dem Rückweg hatte Marike Pertzeval ein wenig Zeit, sich zu besinnen. Sie dachte an das Versprechen zurück, das sie Lyseke gegeben hatte. Sie würde herausfinden, ob Gunther von Kirchows Tod wirklich ein Unfall gewesen war oder ob es sich gar um einen Fluch handelte. Zu diesem Zweck musste sie mit Pater Martin sprechen. Sein brillanter Geist würde sicherlich Licht in das Dunkel bringen.
Die beiden Frauen bogen um die Ecke und sahen die Johannisstraße hinunter auf das so vertraute Haus der Pertzevals. Erst jetzt erinnerte sich Marike an all die bösen Dinge, die sie ihrem Vater heute Mittag an den Kopf geworfen hatte: Er wolle sie zu Hause verrotten lassen, wolle gar nicht, dass sie glücklich werde … Was musste der Vater bloß von ihr denken? Dass sie mit ihm unglücklich war, ihn gar hasste? Dabei war sie doch gerne bei ihm und liebte ihn von ganzem Herzen. Sie beschleunigte ihren Schritt, als sie an das Gespräch zurückdachte. Sie hatte ihm hässliche Dinge gesagt, und nun würde sie versuchen ihm zu versichern, dass sie das alles nicht so gemeint hatte. Sie brauchte ihn doch! Wie er sich heute Morgen um sie bekümmert hatte, als er ihren Kratzer gesehen hatte! Er hatte ihn gar mit Branntwein abgetupft und etwas Salbe daraufgestrichen, damit er schneller verheilen würde.
Marike blieb mitten auf der Straße abrupt stehen. Der Vater hatte ihr heute Mittag von Notke eine gute Besserung für die Prellung am Kopf gewünscht. Doch Marike hatte behauptet, sich erst heute Morgen gestoßen zu haben. Zwar konnte ein liebender Vater schon mal die Notlüge seiner Tochter glauben, doch er war nicht dumm. Wie sollte Notke von der Kopfschramme wissen, wenn er doch heute Mittag zum ersten Mal zum Haus gekommen war? Als Marike die heimische Tür aufstieß und dem Gespräch mit ihrem Vater entgegensah, wurde ihr mulmig. Sie konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Sie würde ihn wieder anlügen und behaupten, sie habe gestern über Kopfschmerzen geklagt und der Maler von der Schramme nichts gewusst. Mit ein bisschen Glück würde Johannes Pertzeval seiner liebenden Tochter dies sogar glauben.
Verzweifelt grübelte Marike darüber nach, dass sie eigentlich keine Zeit für solche Dinge hatte. Sie musste zu Pater Martin und ihm die Merkwürdigkeiten der letzten Tage beichten. In ihr festigte sich der Verdacht, dass der mysteriöse Flötenspieler von gestern Nacht etwas mit dem Tod von Lysekes Verlobtem zu tun hatte. Die Haare sträubten sich Marike, als sie die finstere Gewissheit überkam, dass es dabei mit dem Teufel zuging.
Der Domherr
Pater Paulus grüßte rechts und links, während er die paar Dutzend Schritte vom Dom über den großen Bauhof hinunterhastete. In der Nähe befand sich seine Kurie – eine hochtrabende Bezeichnung für ein kleines, armseliges Haus, das auf dem Boden der Domfreiheit stand. Viele der Häuser hier waren noch vom Hochwasser der Trave im Frühjahr beschädigt, da der Bischof den Grundbesitz der Kirche noch nicht zum Fluss hin befestigt hatte. Der Pater eilte trotz des abschüssigen, glitschigen Bodens zügig voran, denn das sich an die Harten- und Effengrube anschließende Stecknitzfahrerviertel galt mit seinem Labyrinth aus unübersichtlichen und verwinkelten Gängen als eines der schlimmsten Viertel der Stadt. Hier wollte man niemandem im Dunkeln begegnen.
Paulus wünschte sich wie so oft, im Fegefeuer zu wohnen. Jene kleine Straße im Norden des Domes lag höher, stank also nicht so nach Morast und befand sich damit außer Reichweite der vor über die Ufer tretenden Flüsse. Außerdem passte der Name besser zu dem, was Paulus in seiner Kurie verkaufte – nämlich »Bier und Brüste«, wie er stets gerne prahlte. Auch ein Domherr musste schließlich irgendwie sein Einkommen verdienen. Dieses mehr oder weniger offizielle Gewerbe gestattete ihm einen ständigen Zugriff auf öffentliches Weibsvolk, mit dem er nach Belieben schalten und walten konnte. Und genau deshalb hatte Domherr Paulus es an diesem Spätnachmittag so eilig.
Natürlich wusste Paulus, dass das, was er tat, eine Sünde war – Abend für Abend. Eine Sünde, die er spätestens am nächsten Morgen, vermutlich aber schon beim nächsten Glockengeläut vom Turm des Doms bereuen würde. Eine Sünde, die er Pater Nikolaus würde beichten und für die er würde sühnen müssen. Jedes Mal beteuerte Paulus unter Tränen, der gestrige Abend sei der letzte dieser Art gewesen. Und jedes Mal, wenn Paulus die dreckige
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